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Nedelmann, Dr. med. Carl
Drogenpolitik: Das Verbot von Cannabis ist ein "kollektiver Irrweg"
Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 43 vom 27.10.2000,
Seite A-2833 [THEMEN DER ZEIT: Forum]

Anmerkung von cannabislegal.de:
Bitte beachten Sie auch Ärzte und Cannabis-Entkriminalisierung.

Der Autor vertritt die These, dass der Konsum von Cannabis keinen ernsthaften Schaden nach sich zieht - weder körperlich noch seelisch, weder akut noch chronisch. Das Cannabis-Verbot könne daher nicht durch medizinische Argumente gestützt werden.

Das Bundesverfassungsgericht hat 1994 die Ansicht vertreten, dass die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes geeignet sind, die von Cannabis ausgehenden Gefahren zu verringern und die Verbreitung der Droge zu beschränken. Diese Ansicht wird von der Realität widerlegt: Die von Cannabis ausgehenden Gefahren sind geringer als die der legalen Drogen Alkohol und Nikotin. Die Verbreitung der Droge wird durch das Verbot nicht beschränkt, sondern sogar gefördert. Der Rechtsphilosoph Michael Köhler kam zu der Einschätzung, dass das Cannabis-Verbot ein "kollektiver Irrweg" ist, der "nicht guten Gewissens weitergegangen werden kann" (5).

Holland: Zahl der Drogentoten gesunken

Das Beispiel Holland zeigt, was passiert, wenn nicht nur der unmittelbare Konsum, sondern auch der Handel von Cannabis freigegeben wird: Dort gibt es Coffeeshops, wo der Verkauf kleiner Mengen geduldet wird. Die Zahl der Cannabis-Konsumenten ist dadurch nicht - wie vielfach befürchtet - gestiegen, sondern sogar zurückgegangen. Obwohl die Märkte für weiche und harte Drogen weitgehend getrennt sind, ist auch die Zahl der Konsumenten harter Drogen zurückgegangen. Die Zahl der Drogentoten ist gesunken. Zurück nach Deutschland: 1971 hat der Gesetzgeber Cannabis dem Betäubungsmittelgesetz mit dem Argument unterstellt, "es wäre nicht zu verantworten, die Droge jetzt frei zu geben"; man erwartete jedoch aufgrund medizinischer Forschung, "dass man in etwa fünf Jahren zu konkreteren Ergebnissen gelangen wird." 1994 hielt das Bundesverfassungsgericht daran fest, das Cannabis-Verbot vor dem Grundgesetz mit medizinischen Argumenten zu verteidigen, und schrieb in der Begründung: "Obwohl sich ... die von Cannabisprodukten ausgehenden Gesundheitsgefahren aus heutiger Sicht als geringer darstellen, als der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes angenommen hat, verbleiben dennoch auch nach dem jetzigen Erkenntnisstand nicht unbeträchtliche Gefahren und Risiken."

Die im Betäubungsmittelgesetz hergestellte Nähe zu den Opiaten konnte jedoch keine Glaubwürdigkeit mehr finden. Das Bundesverfassungsgericht entschloss sich daher, Cannabis zur besseren Einschätzung mit Alkohol zu vergleichen. Da Alkohol ein Genuss- und Suchtmittel ist, fordert der Vergleich zum einen Antworten auf die Fragen nach Sucht und Abhängigkeit generell. Die Fragen reichen vom akuten Rausch bis zu den Folgen des chronischen und des exzessiven Gebrauchs.  Zum andern fordert der Vergleich mit Alkohol Antworten auf die Fragen nach dem Genuss. Was ist Cannabis als Genussmittel? Hält es auf primitiver Stufe fest? Ist es sublimierungsfähig, also ein Rauschmittel, das sich unserer Kultur angleichen kann?

Schließlich ist zu fragen, ob der Meinungsstreit über Cannabis nicht auf dem Missverständnis beruht, dass die Medizin über Legalität oder Illegalität entscheiden müsste. Das ist nicht ihre Aufgabe; die Medizin ist verantwortlich für die erhobenen Befunde und welches Ausmaß sie haben. Vier umfangreiche Publikationen gewähren einen Überblick, wie er bisher nicht möglich war. Die erste ist eine im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums erstellte Expertise, die die Forschungsliteratur zu pharmakologischen und toxikologischen Wirkungen sowie zu psychosozialen Konsequenzen des Cannabis-Konsums untersucht (1). Die zweite Publikation, gefördert vom Bundesgesundheitsministerium, präsentiert die Ergebnisse einer empirischen Forschung, der eine umfangreiche Befragung von 1 458 cannabiserfahrenen Personen zugrunde liegt (2). Die dritte Veröffentlichung ist dem Spezialproblem Cannabis im Straßenverkehr gewidmet. Es ist ein Sammelband, in dem grundlegende medizinische, psychologische und juristische Aspekte abgehandelt werden (3). Die vierte Publikation ist ein Handbuch zur Suchtmedizin (4).

Unterschiedliches Konsumverhalten

Cannabis wird in der Erwartung konsumiert, Verstimmungen zu beheben, Spannungen zu lindern, Genüsse des Hörens, Sehens, Fühlens und Spürens zu intensivieren oder eine andere Art des Denkens zu genießen. Zu unterscheiden ist der vernünftige Gebrauch, in dem das rechte Maß eingehalten wird, vom unvernünftigen Gebrauch, der bis zur akuten Intoxikation oder bis zum chronischen Exzess führt. Zu unterscheiden ist außerdem zwischen Anfängern, die ausprobieren, und erfahrenen Konsumenten, die präzise Erwartungen haben. Anfänger empfinden Cannabis-Konsum als Abenteuer und Wagnis. Sie wissen nicht, worauf sie achten müssen. Sie kennen die feinen Zeichen des Rausches nicht und nehmen häufig zu viel. Der Konsum hat ihnen keine Lust gebracht, manchen sogar quälende Unlust. Dies erklärt, weshalb zwei Drittel derer, die Cannabis probieren, es bald wieder aufgeben. Problematisch sind die gewohnheitsmäßigen Dauer-Konsumenten. Sie haben mit 23,5 Jahren nicht nur das niedrigste Durchschnittsalter, sondern auch am frühesten mit dem Konsum von Cannabis begonnen (Mittel: 15,9 Jahre). Sie konsumieren Cannabis bis zu viermal pro Tag, meist um sich vorübergehend aus Angst und Lebensnot befreit zu fühlen. Wer vor schädlichen Folgen des Cannabis-Konsums warnt, bezieht sich auf die Gruppe dieser exzessiven Konsumenten.

Erfahrene Cannabis-Konsumenten sorgen für hinreichend gute äußere Umstände und werden von den Wirkungen der Droge nicht überrascht. Wie es Alkohol-Genießer gibt, so gibt es Cannabis-Genießer. Die Forschungsergebnisse lassen es zu, auf einem vergleichbaren Niveau des Genusses den Cannabis-Rausch zu beschreiben. Der Rausch ist nach vier Stunden verflogen

Cannabis wird in den allermeisten Fällen inhaliert und zielt unmittelbar auf den Genuss des Rausches, der sofort oder nach wenigen Minuten eintritt. Seine Tiefe kann daher in der Einnahmephase kontrolliert werden. Nach einer Stunde lässt die Wirkung nach, hält sich noch eine weitere Stunde und verschwindet dann allmählich. Nach drei, höchstens vier Stunden ist sie verflogen. Das macht den Cannabis-Rausch besser kontrollierbar und kalkulierbar als den Alkohol-Rausch. Ein entscheidendes Charakteristikum des Cannabis-Rausches ist die veränderte Wahrnehmung. Äußere und innere Anforderungen sorgen bei Nüchternheit für gezielte Aufmerksamkeit. Unter dem Einfluss des Cannabis-Rausches intensiviert und erweitert sich die Wahrnehmung. Die gezielte Aufmerksamkeit lässt nach, sonst wenig Bemerktes kann in die Wahrnehmung einfließen.

Ungestörtes Eingehen auf sonst weniger zugängliche Realien, Fantasien und Stimmungen und auf freieres Denken wird durch zwei Eigenschaften des Cannabis-Rausches gefördert. Zum einen wird die Zeit anders erlebt. Sie erscheint gedehnt. Bei angespannter, verantwortungsvoller Berufstätigkeit, bei Sorgen oder bei Kummer, aber auch um der puren Lust willen kann das Gefühl, vorübergehend auf einer Insel der Zeitlosigkeit zu leben, zu den besonderen Erwartungen gehören, die Cannabis zum Genuss machen. Zum anderen bleibt im Cannabis-Rausch das Bewusstsein des Rausches erhalten. Es ist jederzeit möglich, die vollständige Kontrolle über das eigene Verhalten herzustellen.

Folgen

Im Rahmen des gelegentlichen oder regelmäßigen Freizeitkonsums, selbst wenn er die Frequenz von zweimal pro drei Tagen erreicht, entsteht durch Cannabis keine Sucht und keine Abhängigkeit und ist mit gesundheitlichen Schäden nicht zu rechnen. Dieses Fazit der Wissenschaft steht fest. Wird Cannabis exzessiv konsumiert, entstehen außer Toleranz-Erscheinungen keine Zeichen einer Sucht. Entsteht eine Abhängigkeit, kann sie leichter überwunden werden als beim Alkohol; denn die Entzugssymptome sind flüchtig und klingen innerhalb von Stunden, höchstens von Tagen ab. Es gibt keine somatischen Befunde von Belang. Die psychischen Befunde, die bisher in der medizinischen und dann auchin der juristischen Cannabis-Diskussion die Hauptrolle gespielt haben, sind widerlegt oder so sehr relativiert worden, dass sie als Gesundheitsgefahren, die der Gesetzgeber respektieren müsste, nicht in Frage kommen.  Löst Cannabis Psychosen aus? Neuere Studien fanden keine Hinweise für eine charakteristische Psychopathologie bei Cannabis-Konsumenten, die die Diagnose einer eigenständigen "Cannabis-Psychose" rechtfertigen würden.

Kann Cannabis-Konsum Stunden, Tage oder Monate später einen Flash-Back (Echo-Rausch) auslösen? Eine solche Kausalität lässt sich wissenschaftlich nicht belegen, spielt aber praktisch eine immense Rolle, wenn auch nicht mehr im Strafrecht und Strafgericht, so doch im Verwaltungsrecht und in Verwaltungsmaßnahmen. Macht Cannabis abhängig? Nach den strengen Kriterien der medizinischen Definition der Abhängigkeit macht Cannabis-Konsum ohne den gleichzeitigen Konsum anderer Rauschmittel zwei Prozent der Konsumenten abhängig. Jedoch spricht in diesen Fällen viel dafür, dass nicht Cannabis die Abhängigkeit bewirkt, sondern dass ungünstige Lebensumstände und -einstellungen dafür verantwortlich sind. In dieser Sichtweise erscheint die Abhängigkeit von Cannabis als ein Symptom, dessen Ursache nicht in einer substanzimmanenten Gefahr, sondern in psychischen Problemen liegt.

Ist Cannabis eine Einstiegsdroge? Diesem Argument liegt ein Fehlschluss zugrunde. Aus dem Befund, dass Heroin-Süchtige zuvor Cannabis konsumiert hatten, war geschlossen worden, dass Cannabis den Weg bahnt. In der epidemiologischen und in der klinischen Forschung gibt es für diesen Umkehrschluss keinen Beleg.

Führt Cannabis zu einem amotivationalen Syndrom? Auch bei Störungsbildern, die durch Passivität und Leistungsverweigerung gekennzeichnet sind, stellt sich die Frage nach Ursache und Wirkung. In genügend kontrollierten Studien erscheint Cannabis nicht als Risikofaktor für Demotivationserscheinungen.

Verkehrssicherheit

In der ersten Stunde nach Rauschbeginn sind deutliche Leistungsdefizite festzustellen. Es ist aber wenig wahrscheinlich, dass in dieser Zeit Auto gefahren wird. Die Erklärung liegt in der Kalkulierbarkeit des Rausches. Der Beginn ist bestimmbar. Will der Konsument den beabsichtigten Rausch auch auskosten, wird eine Teilnahme am Straßenverkehr während dieser Zeit eher unwahrscheinlich. Dies wird durch Befragung zur Fahrbereitschaft bestätigt. Schon in der zweiten Stunde nach Rauschbeginn bessern sich die Leistungsdefizite. In der vierten Stunde zeigen sich keine signifikanten Verschlechterungen mehr. Es gibt Resultate, die andeuten, dass häufige Cannabis-Konsumenten schneller zu ihrer Ausgangsleistung zurückfinden als seltene Konsumenten. Die Verkehrsmedizin hat experimentell bestätigt, dass durch Cannabis bedingte Leistungsdefizite, wie sie für das Autofahren relevant sind, durch Kontrollfunktionen, durch Anstrengungen in anderen Bereichen, so gut ausgeglichen werden, dass das Unfallrisiko durch Cannabis-Einfluss verringert wird, also nicht zu-, sondern abnimmt. In einer Feldstudie von 1994 fuhren 0,5 Prozent der Fahrer mit Alkohol ab 0,8 Promille BAK. Ebenso viele fuhren mit Cannabis-Konzentrationen, die auch von wochenlang zurückliegendem Konsum stammen konnten. Die Alkoholiker waren an 11,2 Prozent aller Unfälle mit schwerem Sach- oder Personenschaden beteiligt. Die Cannabis-Fahrer lagen nach Unfallhäufigkeit und -schwere unter oder höchstens im Normbereich. Die Praxis des Verwaltungsrechts jedoch, die für die Fahrerlaubnis zuständig ist, hat Cannabis, als wäre Cannabis mit LSD vergleichbar, den Halluzinogenen unterstellt und damit der Hypothese vom Flash-Back zu neuer Wirksamkeit verholfen. Zwar ist in der neuesten Auflage des Gutachters "Krankheit im Kraftverkehr" (6), dessen Leitlinien die Praxis bestimmen, der spezielle Hinweis auf die Flash-Back-Gefahren gestrichen worden, aber die Behauptung ist erhalten geblieben, indem von einem "besonderen Wirkungsverlauf" die Rede ist, der " jederzeit unvorhersehbar und plötzlich" die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen kann. Mit dieser Behauptung kann die Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeuges verneint werden, wenn eine regelmäßige Einnahme von Cannabis vorliegt. Was ist regelmäßiger Konsum? Da Fahren unter Cannabis kein vermehrtes Unfallrisiko auslöst, macht es im Hinblick auf die Verkehrssicherheit keinen Sinn, eine Grenze zwischen gelegentlichem und regelmäßigem Konsum festzulegen.

Die Führung in der Cannabis-Verfolgung haben das Verwaltungsrecht und die Toxikologie übernommen. Die Verwaltung droht mit Führerschein-Entzug, die Toxikologie liefert die Nachweise. Das Zusammenspiel der Fächer ist inzwischen so weit gediehen, dass zu einer einjährigen Abstinenz, unwürdige Unterwerfung darin eingeschlossen, gezwungen werden kann, wer auffällig geworden war und nun den Führerschein wieder begehrt. Den Konsum-Gewohnheiten nach trifft es hauptsächlich Jugendliche und junge Erwachsene. Die Verbürgung der Verhältnismäßigkeit der Mittel wird verletzt und Glaubwürdigkeitspotenziale werden aufs Spiel gesetzt. Da Cannabis-Einflüsse die Sicherheit des Straßenverkehrs nicht gefährden, gibt es eigentlich keinen Strafgrund, noch nicht einmal durch Fahren im akuten Rausch. Da aber die selektive Wahrnehmung, die für sicheres Autofahren unerlässlich ist, durch den Rausch geschwächt wird, lässt sich insoweit medizinisch ein Strafgrund vertreten.

Resümee

Die medizinischen Argumente, die zur Aufrechterhaltung des Cannabis-Verbotes verwendet worden sind, stammen aus Befunden schwerer Pathologie. Dabei ist allerdings zu beachten, dass Schäden, die Alkohol anrichtet, schwer, häufig und anhaltend sind; Schäden, die Cannabis anrichtet, sind leicht, selten und flüchtig. Aus medizinischer Sicht wird kein Schaden angerichtet, wenn Cannabis vom Verbot befreit wird. Das Cannabis-Verbot kann durch medizinische Argumente nicht gestützt werden.

Literatur
1. Kleiber D, Kovar K-A: Auswirkungen des Cannabiskonsums.
Eine Expertise zu pharmakologischen und psychosozialen Konsequenzen.
Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 1998.

2. Kleiber D, Soellner R: Cannabiskonsum. Entwicklungstendenzen, Konsummuster und Risiken.
Weinheim, München: Juventa, 1998.

3. Berghaus G, Krüger H-P
(Hrsg.): Cannabis im Straßenverkehr. Stuttgart: Gustav Fischer, 1998.

4. Uchtenhagen A, Ziegigänsberger W (Hrsg.): Suchtmedizin. Konzepte,
Strategien und therapeutisches Management. München, Jena: Urban &
Fischer, 2000.

5. Köhler M: Freiheitliches Rechtsprinzip und
Betäubungsmittelstrafrecht. Zeitschrift für die gesamte
Strafrechtswissenschaft 1992: 3-64.

6. Bundesministerium für Verkehr:
Krankheit und Kraftverkehr. Begutachtungs-Leitlinien des Gemeinsamen
Beirats für Verkehrsmedizin. Bonn, 1996.

Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Carl Nedelmann
Blumenau 92,
22089 Hamburg