Zur Lenkungswirkung des Rechts in der Prävention
1. Prävention und Strafrecht
Die sozialwissenschaftliche Forschung hat sich in den letzten
Jahrzehnten intensiv mit der Lenkungswirkung von und der
Verhaltenssteuerung durch Recht beschäftigt. Die Ergebnisse dabei sind
insgesamt eher entmutigend. Viele der dem Recht zugeschriebenen Folgen
oder Ergebnisse lassen sich nicht oder durch andere als rechtliche
Mittel besser (z.B. mit weniger Nebenwirkungen) erreichen.
Dies gilt insbesondere für die verhaltenssteuernde Wirkung des
Strafrechts, wo spezial- und generalpräventive Effekte nur bedingt
nachzuweisen sind. Zwar hat das Strafrecht insgesamt eine positive
generalpräventive Funktion in dem Sinne, dass es die Normtreue der
Normtreuen (also der "Anständigen") verstärkt; dabei kommt es aber
weniger auf die konkrete Ausgestaltung einer (Strafrechts-)Norm oder auf
die Art und Höhe der Sanktion als auf die Tatsache an, dass ein
Verhalten überhaupt als bestrafungswürdig vom Gesetzgeber definiert
wird. Andere Faktoren (wie z.B. bei Jugendli-chen die Gruppe der
Gleichaltrigen) spielen bei der individuellen Entscheidung, ob man sich
an bestimmte Vorschriften hält oder nicht, eine größere Rolle als das
(Straf-)Recht.
Für die Gesetzgebung im Zusammenhang mit illegalen und legalen Drogen
bedeutet dies, dass keine überzogenen Erwartungen an (neue) Gesetze zu
stellen sind. Vielmehr ist besonderes Augenmerk auf mögliche schädliche
Nebenwirkungen solcher Gesetze (z.B. Stigmatisierung bestimmter
Personengruppen, negative Effekte durch Inhaftierungen etc.) zu richten.
Zudem sollten Gesetze regelmäßig evaluiert und daraufhin überprüft
werden, ob die in sie gesetzten Erwartungen auch tatsächlich erfüllt
worden sind. Sollte die (unabhängige) Evaluation zu dem Ergebnis kommen,
dass dies nicht der Fall ist, dann sind die Gesetze abzuschaffen, im
Ausnahmefall auch zu ändern.
Da die empirische Forschung die prinzipielle Überlegenheit präventiver
gegenüber repressi-ver Maßnahmen nachgewiesen hat ist darüber hinaus
auch sicherzustellen, dass aus bestimmten Gründen notwendige repressive
Vorschriften keine negativen Nebenwirkungen dadurch haben, dass sie
präventiven Vorschriften oder Präventionsmaßnahmen entgegen-stehen,
behindern oder unmöglich machen. So zeigt sich in der Praxis, dass viele
Formen der akzeptierenden Drogenhilfe gegen das derzeit geltende
Betäubungsmittelgesetz verstoßen.
So hat z.B. der Gesetzgeber z.B. die Ausgabe von Einmalspritzen an
Drogenabhängige und die Einrichtung und das Betreiben von nach §10 a
BtMG erlaubten Konsumräumen aus der Strafbarkeitszone herausgenommen. Es
bleiben aber trotz des Dritten Betäubungsmittel-Änderungsgesetzes
zahlreiche Formen akzeptierender Drogenhilfe, die eine Verfestigung des
Drogenmissbrauchs verhindern, Lebenshilfe und Überlebenshilfe
gewährleisten wollen, strafbar.
Die Plakataktion der AIDS-Hilfe, die Opiatabhängige zu
Safer-Use-Techniken gewinnen wollte, wurde wegen Verstoßes gegen § 29
Abs. 1 Nr. 12 BtMG (= öffentliche Auf-forderung zum Verbrauch von
Betäubungsmitteln, die nicht zulässiger Weise verschrieben worden sind)
verfolgt. Sozialarbeiter oder Ärzte, die für einen AIDS-Kranken
Marihuana zu Therapiezwecken beschaffen, machen sich wegen unerlaubten
Betäubungsmittelerwerbes strafbar. Wenn eine Mutter, ein Leiter einer
betreuten Wohngemeinschaft oder eines Über-nachtungsheimes für
Drogenabhängige, ein Polizeibeamter oder ein Sozialarbeiter eine
Tochter/Sohn, einen Mieter/in, einen Besucher oder Straßenpassanten in
einen hygieni-schen Raum zum Konsum weisen, so ist dies nach den §§ 29
Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 und 11 BtMG (neue Fassung) immer noch strafbar.
Wenn außerhalb der staatlichen Untersuchungsstellen, die gemäß § 4 BtMG
von der Erlaubnispflicht befreit sind, Drogenberatungslehrer, Chemiker
oder Drogenhelfer (wie die Organisation Eve & Rave in Berlin) am Rande
von großen Musikveranstaltungen Betäubungsmittel-Proben auf ihre
Zusammensetzung untersuchen, um Drogenkonsumenten vor gefährlichen
Designerdrogen zu warnen, so stellt dies nach herrschender Meinung ein
strafbares Verschaffen von Gelegenheit zum unbefug-ten Verbrauch nach §
29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 BtMG dar.
Wenn Drogenhelfer auf der Drogenszene verelendenden Opiatabhängigen mit
vereiterten und zerstochenen Venen beim Injektionsvorgang durch Hilfe
beim Abbinden, bei der Venensuche oder beim Setzen der Spritze helfen,
so verschaffen sie mit dieser Hilfeleistung eine Gelegenheit zum
unbefugten Verbrauch und machen sich nach § 29 Abs. 1 Nr. 10 BtMG
strafbar.
Das BtMG und teilweise auch das Strafgesetzbuch bedrohen bisweilen
Präventionsmaßnahmen mit Strafe, anstelle Präventionsmaßnahmen zu
fördern und eine Rechtsgrundlage zu bieten.
Der Gesetzgeber hat in den vergangenen Jahren aus politischen Erwägungen
mit den §§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10, 11 und 12 BtMG besondere
Tatbestandsformen der Beihilfe zum Kon-sum geschaffen und mit Strafe
bedroht, obwohl von Seiten der Strafverfolgung hier kein Bedürfnis
bestand.
So zeigen denn auch die Statistiken der Strafverfolgungsbehörden, dass
diese Vorschriften nicht zu Verurteilungen führen, aber von den
politischen Parteien bei der Bewertung von Drogenhilfe und
Therapiemaßnahmen häufig zitiert werden. Die Lösung der Probleme wäre
deshalb eine ersatzlose Streichung dieser Vorschriften.
Insgesamt ergeben sich somit folgende Empfehlungen:
- Der häufig unterstellte verhaltenssteuernde Effekt von
(Straf-)Gesetzen ist kritisch zu hinterfragen.
- Die Nebenwirkungen von bestehenden und neuen Gesetzen sind intensiver
als bisher zu untersuchen und zu dokumentieren.
- Von den Möglichkeiten experimenteller Gesetzgebung (Befristungen/
Evaluationsgebot/ Berichtspflichten) sollte verstärkt Gebrauch gemacht
werden. Insbesondere sollte eine durch unabhängige Gutachter
durchzuführende Evaluation von (neuen) Gesetzen gewährleisten, dass nur
solche Gesetze in Kraft bleiben, die ihre (klar definierten) Ziele auch
tatsächlich erreichen.
- Repressive Vorschriften sollten regelmäßig daraufhin überprüft werden,
ob sie präventive Maßnahmen behindern. Im Zweifel sollte der Grundsatz
"Prävention vor Repression" gelten.
Es böte sich in diesem Zusammenhang möglicherweise an, in einer Präambel
zum BtMG nicht nur das vier Säulen Prinzip: a) Prävention, b) Therapie,
c) Überlebenshilfe und d) Repression zu verankern, sondern auch eine
Zielklausel aufzunehmen, die besagt, dass bei Widerstreit von Prävention
(bzw. Drogenhilfe) und Repression dem Präventions- und Hilfegedanken den
Vorrang einzuräumen ist.
- Die Polizeigesetze der Länder und die Richtlinien für das Straf- und
Bußgeldverfahren (RiStBV) sind dahin zu ergänzen, dass Polizei und
Staatsanwaltschaft alle Präventions-maßnahmen nach Kräften zu
unterstützen haben.
- Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn
sollte durch vermehrte Ausnahmegenehmigungen Erprobungsprojekte
ermöglichen, ob zukünftig auf bestimmte repressive Bestimmungen
verzichtet werden kann (z.B. Untersuchung von Betäubungsmittelproben zur
Schadensminimierung - "drug checking")