Interview der Drogenbeauftragten Marion Caspers-Merk mit der Zeitschrift
"Akzeptanz" im April 2001
1.Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Cannabissituation in der
Bundesrepublik Deutschland?
2.Welche drogenpolitischen Veränderungen sind aus Ihrer Sicht notwendig
angesichts der Tatsache, dass Cannabisprodukte die meist konsumierte
illegalen Drogen in Deutschland sind?
3.Wie stehen Sie zu den Forderungen aus der Fachwelt nach
Entkriminalisierung (Opportunitätsprinzip wie in den Niederlanden) und/oder
Teillegalisierung (wie in Belgien, Portugal und in der Schweiz geplant)?
"Gestatten Sie mir zunächst eine Vorbemerkung. Ihre Fragen gehen ein wenig
einseitig davon aus, dass in der Fachwelt ohne Widerspruch eine weitere
Entkriminalisierung des Umgangs mit Cannabis gefordert wird. Ich darf aber
darauf hinweisen, dass auch in der Fachwelt - zumindest auf
gesamteuropäische Ebene - noch sehr unterschiedliche Konzepte diskutiert
werden. Und die reichen von sehr restriktiven Vorstellungen, etwa in
Schweden, bis hin zu einer weitgehend liberalen Haltung, etwa in der
Schweiz. Auch in der Schweiz, in der zur Zeit sehr weitgehende Überlegungen
angestellt werden, Cannabisbesitz und -erwerb straflos zu stellen und auch
den Anbau erlauben, gehen die Meinungen dazu auseinander. In einer
kürzlichen Befragung der Schweizer Fachstelle für Alkoholfragen (SFA) haben
über 60% der Befragten z.B. dafür plädiert, den öffentlichen Konsum von
Cannabis weiterhin zu verbieten. Andererseits waren fast 70% der Auffassung,
ein Verbot mache den Konsum nur verlockender. Mehr als zwei Drittel lehnten
ein hartes Vorgehen der Polizei gegen Cannabiskonsumenten ab, aber rund die
Hälfte vertrat die Meinung, dass eine Legalisierung den Konsum fördere und
fast 60% meinten, Cannabiskonsum sei der erste Schritt zum Gebrauch harter
Drogen. Sie sehen, dass die Diskussion durchaus kontrovers verläuft und dass
die Auswirkungen der drogenpolitischen Maßnahmen, die ein Land unternimmt,
genau überlegt werden müssen.
Zu 1.
Cannabis ist die am häufigsten sichergestellte illegale Droge in Deutschland
und wird auch bei weitem am häufigsten im Rahmen von Konsumdelikten erfasst.
Dies entspricht der Situation in vielen anderen Ländern. Dementsprechend ist
der Anteil der Personen in Umfragen, die Erfahrungen mit Cannabis haben, die
also im Laufe ihres Lebenszeitraums mindestens einmal konsumiert haben,
relativ groß. Neben den Erhebungen des BKA stellen die Ergebnisse der
Untersuchungen des Instituts für Therapieforschung (IFT) in München einen
wichtigen Indikator für das Ausmaß der Drogenproblematik in Deutschland dar.
Für das Jahr 2000 stieg die Life-time-Prävalenz - also der mindestens
einmalige Konsum - in den alten Bundesländern von 14,2 % auf 21% an, in den
neuen Ländern von 4,8 % auf 11%. Der Anteil der aktuellen Konsumenten stieg
von 4,9 % der westdeutschen Befragten auf 6% und von 2,7 % der ostdeutschen
Befragten auf 5%.
Hochgerechnet auf die Wohnbevölkerung sind das in Ostdeutschland 26.000
Personen und in Westdeutschland 214.000 Personen, die regelmäßig Cannabis
konsumierten. Der Neugier- oder Probierkonsum verliert sich zwar bei den
meisten Jugendlichen durch die Übernahme von Verantwortung, aber es bleibt
eine hohe Zahl von Jugendlichen übrig, die täglich Cannabis konsumieren. Das
18 % derjenigen, die regelmäßig konsumieren. Dieses riskante Konsummuster
nimmt gerade unter Jugendlichen zu.
Die Cannabisprodukte Marihuana und Haschisch sind seit über 25 Jahren die am
meisten konsumierten illegalen Drogen in Deutschland. Etwa ebenso lange ist
Cannabis Gegenstand vielfältiger Forschungsarbeiten. Dennoch war auch noch
in den 90er Jahren der Wissensstand zu Wirkungen und Konsequenzen des
Cannabiskonsums nicht eindeutig. Aufgrund der vorliegenden Ergebnisse muss
die allgemeine Annahme, dass der Konsum von Cannabis eine Verschlechterung
der psychischen Gesundheit nach sich zieht, zurückgewiesen werden. Zwar ließ
sich zeigen, dass stärker problembehaftete Personen besonders häufig
konsumieren, Belege für eine schädigende Substanzwirkung von Cannabis ließen
sich hingegen nicht finden. Der Konsum von Cannabis führt nicht zwangsläufig
zu einer psychischen Abhängigkeit, es kann jedoch zu einer
Abhängigkeitsentwicklung kommen. Eine solche Abhängigkeit vom "Typ Cannabis"
(WHO-Kategorisierung: mäßig starke psychische Abhängigkeit) kann jedoch
nicht primär aus den pharmakologischen Wirkungen der Droge erklärt werden,
ohne vorab bestehende psychische Stimmungen und Probleme zu berücksichtigen.
Die Abhängigkeit von Cannabis sollte als Symptom solcher Probleme gesehen
werden. Ein immer wieder genanntes wichtiges Argument in der Diskussion um
Cannabis ist die Annahme einer möglichen "Schrittmacherfunktion" für den
Einstieg in illegale Drogen bzw. den Umstieg auf härtere Substanzen. Diese
These muss laut Kleiber/Korvar nach Analyse der vorliegenden Studien
zurückgewiesen werden. Der Konsum der Droge ist dennoch nicht frei von
Risiken: In Bezug auf körperliche Risiken sind vor allem die
Beeinträchtigung der Bronchialfunktionen und die kanzerogenen Effekte des
Rauchens von Cannabisprodukten, vor allem in Kombination mit starkem
Nikotinrauchen zu nennen. Hormonelle Beeinträchtigungen oder auch eine
Beeinträchtigung der pränatalen Entwicklung sind nicht einheitlich belegt,
dennoch sollte insbesondere in der Schwangerschaft auf einen Konsum von
Cannabis (wie auch auf den Konsum anderer Drogen) verzichtet werden.
Desgleichen ist bei jungen Jugendlichen entsprechende Vorsicht indiziert.
Für den Bereich psychischer und sozialer Konsequenzen muss nach
Kleiber/Korvar vor allem auf die zwar reversiblen, aber doch
stundenanhaltenden kognitiven und psychomotorischen Beeinträchtigungen
hingewiesen werden, die das Fahrvermögen und sicher auch die
Leistungsfähigkeit in Schule und Beruf einschränken. Es sollte klar sein,
dass ein hochfrequenter, stark dosierter Konsum mit der Bewältigung
schulischer und beruflicher Anforderungen kaum zu vereinen ist. Auch
angesichts der neueren Forschungsergebnisse darf nicht vernachlässigt
werden, dass ein zwar geringer, aber doch feststellbarer Prozentsatz der
dauerhaften Cannabiskonsumenten sich mit Folgeproblemen in Behandlung
begibt. Mit fast 13.000 Personen, die sich mit einem schädlichen Gebrauch
oder Abhängigkeit von Cannabisprodukten im Jahr 1997 an ambulante
Einrichtungen wenden, hat sich dieser Personenkreis seit 1993 mehr als
verdoppelt.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Beschluss vom 09.03.1994
festgestellt, dass die für Cannabis geltenden Verbote und Strafvorschriften
des BtMG nicht verfassungswidrig sind. Das Gericht hat allerdings die
Strafverfolgungsorgane aufgefordert, von der Verfolgung der in § 31 a des
Betäubungsmittelgesetzes bezeichneten Straftaten unter den dort genannten
Voraussetzungen nach dem Übermaßverbot grundsätzlich abzusehen bzw. die
Strafverfahren einzustellen. In der Regel findet eine Verurteilung wegen des
Besitzes kleiner Mengen Cannabis (bis 10 Gramm) nicht statt, wenngleich die
Bundesländer für die "geringe Menge" Cannabis unterschiedliche Grenzmengen
festgesetzt haben, die je nach Bundesland von 3 - 30 Gramm Cannabis reichen.
1998 wurden 216.682 Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz registriert.
Davon waren 79.495 Fälle Konsumdelikte mit Cannabis und dessen
Zubereitungen. Im Vergleich zu 1997 bedeutet dies einen Anstieg um 23,3%.
Ich habe auch Kenntnis von der zunehmenden Anzahl von Jugendlichen, die zu
einer Medizinisch-Psychologischen-Untersuchung (MPU) aufgefordert werden, in
der die Eignung zum Führen eines Fahrzeuges festgestellt wird. Dies
geschieht auch in Fällen, wo ein Konsum nicht nachgewiesen werden konnte,
lediglich der Besitz von Cannabis. Das Verkehrsministerium prüft z.Zt. in
einer Untersuchung diese Entwicklung. Einige Gerichte halten diese Praxis
auch für bedenklich. Solange keine eindeutigen Messverfahren bestehen, wird
es allerdings zu keiner Veränderung kommen. Denn im Rahmen einer
Gleichbehandlung mit Alkoholkonsum am Steuer müssten auch für Cannabis
Grenzwerte festgelegt werden. Ein Fahren unter Cannabiseinfluss kann nicht
toleriert werden.
Zu 2.
Mir sind die Entwicklungen in europäischen Nachbarländern, den Eigenkonsum
von Cannabis weiter zu entkriminalisieren, bekannt. In den Niederlanden wird
durch eine klare Unterscheidung zwischen Cannabis und Heroin/Kokain/LSD
einerseits und zwischen Konsumenten und Händlern andererseits das
Opportunitätsprinzip umgesetzt. Die Substanz wird gesetzlich und
gesellschaftlich als tragbar eingestuft und nur der Handel damit verfolgt.
Das holländische Betäubungsmittelgesetz unterscheidet zwischen
"Hanferzeugnissen" und Substanzen, deren Konsum "inakzeptable Risiken
beinhaltet". Der Handel mit Cannabis für den Eigenkonsum ist in den sog.
Coffee-Shops toleriert, sofern fünf staatliche Bedingungen erfüllt werden:
Keine Außenwerbung, kein Handel mit Heroin/Kokain/LSD, keine Belästigung der
Umgebung, kein Verkauf an Jugendliche unter 18 Jahren, kein Verkauf von
größeren Mengen als 5 Gramm. Die kommunale Coffee-Shop-Politik ist Sache der
lokalen Behörden.
In Portugal und neuerdings auch in Belgien gibt es ebenfalls gesetzliche
Initiativen zur Entkriminalisierung, nicht aber zur Legalisierung von
Cannabis. Beides wird in der öffentlichen Debatte miteinander verwechselt.
In der Schweiz wird bereits seit längerem über eine Änderung des
Betäubungsmittelgesetzes nachgedacht. Durchsetzungsfähig schien zunächst
folgendes Modell: Aufhebung der Bestrafung von Besitz und Konsum. Der Handel
mit Cannabis bleibt strafbar. Es wird aber das Opportunitätsprinzip für die
Strafverfolgung des Handels eingeführt. Die Entwicklung bleibt abzuwarten.
Ich halte es aber für ein Problem, dass es in der Schweiz keine Angebote
gibt für Jugendliche, die einen problematischen Cannabiskonsum haben. Denn
dass der Konsum von Cannabis Probleme mit sich bringen kann, zeigt auch die
schon erwähnte Studie des SFA. Jede bzw. jeder Fünfte der jüngeren Befragten
mit Cannabiserfahrungen hat auch Probleme wahrgenommen. Und zwar
interessanterweise weniger mit der Polizei, als vielmehr körperliche und
psychische und auch die Befürchtung, psychisch abhängig zu werden vom
Konsum. Ich mache mir ausserdem Sorgen darüber, das bereits jetzt im
Grenzbereich eine Sogwirkung eingetreten ist und sich Jugendliche aus
Deutschland in der Schweiz in den Hanfläden mit Cannabis versorgen. Im
Moment findet eine unkontrollierte Abgabe auch an Jugendliche statt. Die
Schweiz ist zum Cannabisexportland geworden. Eine einheitliche und
abgestimmte europäische Politik scheint nur schwer möglich zu sein, da
beispielsweise Schweden ein völlig anderes Konzept hat.
Zu 3.
Schon auf Grund der völkerrechtlichen Vorgaben darf der Verkehr mit Cannabis
zu anderen als medizinischen und wissenschaftlichen Zwecken nicht gesetzlich
zugelassen werden. Deshalb wird es eine Legalisierung nicht geben. Ich
hielte sie auch nicht für richtig, weil ich befürchte, dass dann der Konsum
noch stärker zunimmt und damit auch die riskanten Konsummuster. Meines
Erachtens brauchen wir eine Risikodebatte in unserer Gesellschaft über dem
Umgang mit psychoaktiven Substanzen. Denn wir können zwei Tendenzen in der
Gesamtbevölkerung wahrnehmen:
Einerseits nimmt der Konsum psychoaktiver Substanzen, angefangen von Tabak
und Alkohol bis zu Heroin langsam ab, aber gleichzeitig gibt es immer mehr
Jugendliche, die im Rahmen einer "Spaßkultur" einen risokoreichen Konsum
pflegen, ohne darüber kritisch nachzudenken. Besorgniserregend finde ich
auch die Tatsache, dass die Drogenkonsumenten immer jünger werden. Nach
Angaben von Wissenschaftlern trinken 5 % der 12jährigen regelmäßig Alkohol.
Die Anzahl der Jugendlichen Raucher und hier vor allem der Mädchen nimmt zu.
Das Einstiegsalter liegt bei 13 Jahren. Mit 15 erfolgt bei vielen der
Einstieg in illegale Drogen.
Auf internationaler Ebene wird darüber diskutiert, dass es mehr Sinn macht
von weichen und harten Konsummustern zu reden, als von weichen und harten
Drogen. Die harten Konsummuster von Jugendlichen nehmen zu.
Cannabis-Probierkonsum wird bei Jugendlichen immer häufiger, fast jeder
zweite in der Altersgruppe der 18 ist 20jährigen hat Erfahrungen; wenn auch
die meisten Jugendlichen nur wenig konsumieren oder den Konsum später
beenden, wächst auch die Zahl von Jugendlichen, die exzessiv konsumieren,
zumeist noch zusammen mit anderen Mitteln, wie Alkohol und Ecstasy, und hier
kommt es auch zu einer verstärkten Nachfrage nach Hilfe.
Das Bundesministerium für Gesundheit hat in Abstimmung mit einigen
Bundesländern jetzt ein vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe koordiniertes
Modellprojekt zur "Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsumenten"
begonnen. Dabei soll eine frühe Intervention helfen, durch möglichst
gezielte Angebote zu Beginn eines problematischen Drogenkonsums Jugendlicher
und junger Erwachsener beginnende Drogenkarrieren zu verhindern. Leitidee
ist es daher, jungen erstauffälligen Drogenkonsumenten ein gezieltes
Informationsangebot zu unterbreiten..
Wir brauchen eine gesellschaftliche Diskussion über die mit dem Konsum
psychoaktiver Substanzen verbunden gesundheitlichen, psychischen und
sozialen Risiken. Diese Risiken sind unabhängig davon, ob diese Substanzen
legal oder illegal sind. Es sollte deshalb in dieser Debatte weder eine
Verteufelung, noch eine Bagatellisierung von psychoaktiven Substanzen geben.
Wir brauchen realistische und glaubwürdige Präventions- und
Behandlungskonzepte, die von der Lebenswirklichkeit der Menschen ausgehen
und ihnen helfen,
* den Einstieg in den Konsum hinauszuzögern
* den Ausstieg aus riskanten Konsummustern frühzeitig zu schaffen
* den Ausstieg aus einer Abhängigkeit zu erreichen mit allen dafür zur
Verfügung stehenden Hilfen, von der Abstinenzthetrapie bis zur
medikamenten-gestützten Behandlung.
Ich bin mir allerdings auch darüber bewusst, dass eine reine Verbotspolitik
das Problem nicht löst, sondern eher kontraktproduktiv sein kann und dass
insbesondere Jugendliche einen liberaleren Umgang mit Cannabiskonsum
wünschen. Politik muss aber ausgewogen bleiben: ich kann nicht beim Umgang
mit Tabak und Alkohol auf die Bremse treten und bei Cannabis gleichzeitg
auf's Gas. Eine Kriminalisierung von Jugendlichen ist aber sicherlich
nicht der geeignete Weg, um eine kritischen Umgang mit psychoaktiven
Substanzen zu erreichen. Der Umgang in unserer Gesellschaft mit psychotropen
Substanzen, einschließlich Alkohol und Tabak, ist nach wie vor von
Widersprüchlichkeiten geprägt. In der Drogen- und Suchtpolitik gibt es
keinen Königsweg, sondern ein Mosaik von - bestmöglich - aufeinander
abgestimmten Bausteinen von Prävention, sozialer und therapeutischer
Unterstützung und Hilfe - einschließlich Schadensminderung und
Überlebenshilfe."