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Eine vertane menschliche Chance (Neues Deutschland, 11.05.2002)

Ursprüngliche URL: http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=17103&IDC=3

Die Potenziale von Cannabis als Medizin sind seit langem bekannt. Kranke werden jedoch noch immer kriminalisiert. Ein Beispiel.

Von Tom Strohschneider

Michael Grosse ist 42 Jahre alt und konsumiert seit 1995 Cannabis ­ nicht jedoch wegen eines Rausches, den die Öffentlichkeit für krank machend hält. Der Berliner kifft gegen die Symptome einer Krankheit. Denn Michael Grosse leidet an Morbus Crohn, einem schweren chronischen Darmleiden. Nun hat ihn das Landgericht Berlin zu fünf Monaten auf Bewährung verurteilt. Helle Hose, helles Shirt ­ Michael Grosse tritt an diesem Dienstag mit sprichwörtlicher weißer Weste in den Saal 138 des Moabiter Gerichtsgebäudes in Berlin. Die Staatsanwaltschaft, so steht es in der Anklageschrift, wirft ihm vor, »bis zum 17. Mai 2000 Betäubungsmittel unerlaubt angebaut zu haben«. Doch wie der 42-Jährige dort unter der Richterbank sitzt, ist es, als ob er allen zeigen möchte: Seht her, ich bin kein Straftäter. Ja, er hat Marihuana geraucht, hat Sitzbäder mit Cannabis gemacht und »seine« Medizin in der eigenen Wohnung auch angebaut. Aber »was sollte ich denn machen, ich wollte mir doch nur helfen«. Das Gericht wird diese Ansicht einige Stunden später nicht teilen. Da hat Michael Grosse bereits einen dunklen Pullover übergezogen. Die »weiße Weste« hatte einen Fleck bekommen.

Die Geschichte beginnt auf ihre Weise bereits in Grosses Kindheit. Er wächst im Märkischen Viertel auf, nicht gerade ein schmucker Kiez des Berliner Westens. Cannabis ist in dem verwinkelten Koloss aus Beton keine Außergewöhnlichkeit. »Kiffen war auch zu meiner Zeit dort schon gang und gäbe«. Doch mit Rauschgift wollte Grosse nie etwas zu tun haben. »Ich hab das immer abgelehnt«, sagt der hagere Mann, auf dessen Stirn die Haare bereits den Rückzug antreten. Und es gibt keinen Anlass, ihm nicht zu glauben. Sogar die Staatsanwältin scheint frei von Zweifeln. Aber die Gesetze sind nun einmal so, wie sie sind.

1981 äußern die Ärzte im Berliner Humboldtkrankenhaus zum ersten Mal den Verdacht, der das Leben des gelernten Elektroanlageninstallateurs nachhaltig verändern wird: Morbus Crohn, eine chronisch entzündliche Erkrankung des Verdauungstraktes. Das Übel kommt in Schüben. Drei Monate nach der ersten Begegnung mit »dem Crohn«, wie Grosse die Krankheit inzwischen fast liebevoll nennt, beginnen Durchfälle, Schmerzen, in nur wenigen Wochen nimmt der 17 Kilogramm ab. Die Ärzte verschreiben hohe Dosen Cortison ­ doch das hilft nur gegen die Symptome. Heilbar ist die Krankheit, von der in der Bundesrepublik etwa 300000 Menschen betroffen sind, nicht.

An ein normales Leben ist nicht mehr zu denken

Und so lässt der Crohn auch den Kabelmonteur bei der Bewag nicht mehr los. Immer wieder meldet sich die Krankheit zurück, die Schübe werden schlimmer. Mal neun Monate, mal einige Wochen ­ wieder und wieder kommen die Krämpfe, der Durchfall, die Abszesse. Arbeiten kann Grosse schon zu dieser Zeit nur noch sporadisch. Die Medikamente schwemmen ihn auf, er bekommt Probleme mit den Knien, muss spezielle Arbeitsschuhe trage. An ein normales Leben ist nicht mehr zu denken.

Anfang der 90er Jahre wagt sich Michael Grosse kaum noch aus dem Haus ­ Fahrten durch die Stadt müssen genauestens geplant werden. »Ich war in dieser Stadt wohl schon auf jeder öffentlich zugänglichen Toilette«, sagt Grosse. Die Bewag versetzt ihn zunächst in den Innendienst. 1993 schließlich drängt man ihn in den vorzeitigen Ruhestand. Gegen seinen Willen zwar, doch Grosse winkt ab: »Ich war ja kaum noch auf Arbeit«. Und außerdem, so sagt er, könne er von der Erwerbsunfähigkeitsrente ganz gut leben. Mit der Krankheit allerdings immer schlechter.

Versuche, die Medikamente zu wechseln, scheitern. Grosse ist inzwischen sein eigener Spezialist. 1995 liest er erstmals über die positive Wirkung von Cannabis bei Morbus-Crohn-Patienten und spricht seinen Arzt darauf an. »Ein Versuch könnte sinnvoll sein«, lautet die Antwort. Doch Grosse, der bis dahin nie Kontakt mit illegalen Drogen hatte, scheut sich. Ein paar Wochen später beginnt ein neuer Krankheitsschub und Grosse magert auf 53 Kilogramm ab. Krämpfe und Durchfälle halten erneut über Monate an. Ein neues Cortison-Präparat verspricht weniger Nebenwirkungen, schlägt bei dem Berliner jedoch nicht an, im Gegenteil: Die Krämpfe werden schlimmer. Grosse ist am Ende. An einem dieser Tage nimmt er zum ersten Mal in seinem Leben Cannabis. Am nächsten Morgen wacht Grosse seit langem wieder schmerzfrei auf: »Der Stress im Darm war weg.«

Medikamente auf Cannabis-Basis

Die medizinischen Potenziale des Cannabis sind seit langem bekannt. Schon der chinesische Kaiser Sheng-Nung empfahl vor 5000 Jahren die Verabreichung der Droge gegen Rheuma. Inzwischen ist der Stoff verboten, der Besitz wird in der Bundesrepublik nur bei »geringen Mengen« nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Dass die Medizin bei der Erforschung des Cannabis große Fortschritte gemacht und der Gesetzgeber sogar schon Medikamente auf Cannabis-Basis zugelassen hat, ist für Michael Grosse keine Hoffnung ­ noch nicht. Denn inzwischen hat eine US-Firma ein Patent erhalten, um Cannabismedikamente als TNF-alpha-Hemmer zu entwickeln. Der Botenstoff mit dem umständlichen Namen gilt beim Morbus Crohn als Entzündungsauslöser. Doch bis zur Marktreife kann es noch dauern. Solange müsste auch Michael Grosse warten und, so sagt er, sich selber helfen.

Das aber ist nicht ganz so einfach. Nicht nur, dass der strafrechtliche Verfolgungsdruck den Kauf erschwert und die Droge zudem auf Dauer teuer ist. Auch die Wirkung des natürlichen Cannabis variiert. Grosse beginnt 1998 Cannabis selbst zu züchten ­ vor allem wegen der Sitzbäder, mit denen er auf ärztlichen Rat hin erfolgreich die Entzündungen behandelt. Inzwischen hat der Vater zweier Kinder eine neue Freundin in Radebeul gefunden und pendelt zwischen Sachsen und Berlin. Der nachwachsenden Hausapotheke stattet er Woche für Woche einen Besuch ab. In das Leben des Michael Grosse ist zu dieser Zeit wieder so etwas wie Normalität zurück gekehrt. Sogar mit dem Fahrrad kann er wieder fahren ­ die Krankheit hatte ihm den Spaß über Jahre hinweg verwehrt. Doch das kleine Glück ist nicht von Dauer.

Im Mai 2000 wird Grosses kleine Plantage entdeckt und die Mühlen der Justiz beginnen langsam zu mahlen. Als Grosse bei der ersten Verhandlung seine Krankheitsgeschichte erzählt, stutzt der Richter. Die Sache, erinnert sich Grosse, sah plötzlich anders aus. Seine Anwälte wollen das Verfahren vor das Bundesverfassungsgericht bringen ­ wegen der grundsätzlichen Bedeutung. Denn auch andere Patienten versuchen seit langem, ein Recht auf die Natur-Medizin zu erstreiten. Doch auch ein Antrag auf Ausnahmegenehmigung beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte bringt keine Wende. Schließlich lehnte es der Richter ab, eine Vorlage beim Bundesverfassungsgericht einzureichen. Einer der Gründe: Cannabis beeinträchtige das Immunsystem.

Rot-Grün umschiffte das heikle Thema

»Das war völliger Quatsch«, sagt Grosse. Der Zug zum höchsten deutschen Gericht blieb zunächst verstellt. Es kann Jahre dauern, bis auf dem Weg durch die Instanzen die Obersten Richter erreicht sind. Und selbst wenn: Eine für Michael Grosse vernünftige Entscheidung wäre auch dann nicht sicher und teuer obendrein. Bereits jetzt sitzt er auf einem fünfstelligen Schuldenberg ­ allein wegen der Prozesskosten. Ohnehin muss eine politische Entscheidung her. Doch für die stehen die Zeichen - bald ist Bundestagswahl und die Drogenpolitik von Rot-Grün hat das Thema zielsicher umschifft - schlecht. An der Einsicht mangelt es weniger. Selbst die Drogenbeauftragte der Bundesregierung weiß in ihrem jüngsten Bericht: »Strafverfolgung allein ist nicht geeignet, um dem gesellschaftlichen Problem von Cannabis gerecht zu werden«. Deshalb habe man Schwerstkranken den Zugang zu Cannabis-Medikamenten verbessert.

Geändert hat sich dennoch nichts, nicht für Michael Grosse. Dabei hat der Berliner nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Cannabis als »Spaßdroge« ablehnt. Als er im Sommer 1998 eine Schulklasse auf einer Kanu-Tour begleitet, stellt ihn die Wirklichkeit auf die Probe. »Nach einer Woche wusste ich, dass ein Drittel der Kinder kifft.« Grosse verabredet sich mit den Eltern und klärt auf. »Cannabis ist nichts für Jugendliche«, sagt er noch heute, genauso wie Bier. Er weiß, wovon er spricht ­ Grosses Vater war selbst Alkoholiker.

Eine drogenfreie Gesellschaft hält allerdings auch er für »illusorisch«. »Man muss vernünftig mit Cannabis umgehen«, fordert Grosse. Der Stoff gehöre in die Apotheke. Und zwar als Naturstoff. Denn die synthetischen Produkte verfehlen oft ihre Wirkung. Außerdem sind Cannabis-Medikamente wie das aus den USA importierte Marinol viel zu teuer und werden von den Kassen nicht bezahlt. Das bestätigen auch Experten und kritisieren die Verteufelung der natürlichen Substanz. Bei Aids-Kranken oder Multiple-Sklerose-Patienten werden die positiven Wirkungen kaum mehr bestritten. Doch Marihuana oder Haschisch bleibt auch für die Schwerstkranken Tabu. Eine mögliche Lösung wären Cannabis-Tabletten auf Rezept. Doch noch immer werden viele Patienten vertröstet.

Oder bestraft. Für die Staatsanwältin in Berlin-Moabit »ist der Sachverhalt klar«. Kein Zweifel, kein Nachdenken. Nicht einmal bei der Strafzumessung will sie einlenken. Immerhin habe Grosse das Dreifache der »geringen Menge« ­ die in allen Bundesländern unterschiedlich hoch ist ­ besessen. In ihrem Plädoyer fordert sie daher ein Jahr auf Bewährung. Für Michael Grosse, der das irgendwie auch erwartet hat, bricht dennoch eine Welt zusammen. Ja, auf jeden Fall wolle er in Berufung gehen, selbst bei eine Geldstrafe von 50 Euro, hatte er noch vor Beginn der Verhandlung gesagt.

Rechtspraxis ­ mit der Wirklichkeit auf Kriegsfuß

Immerhin geht es ums Prinzip, um Tausende andere Patienten und eine Rechtspraxis, die mit der Wirklichkeit auf Kriegsfuß steht. So sieht das auch Michael Grosses Anwalt. Das Gericht, so sagt Sven Lindemann in seinem Plädoyer, habe es vermieden, der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ins Auge zu blicken. Die Verteidigung »müsse das zur Kenntnis nehmen«. Enttäuschend sei es dennoch und nicht weniger als eine vertane Chance. Den »weiteren Entzug eines solchen Medikaments« hält der Anwalt gar für »unmenschlich«. Und gefährlich ist es obendrein. Für Michael Grosse zum Beispiel. »Im Knast würde ich kein Jahr überstehen«, ruft er der Staatsanwältin unter Tränen entgegen. Und selbst die Bewährungsstrafe die der Berliner an diesem Dienstag erhält, ändert nichts daran. Denn Michael Grosse wird weiter Cannabis zu sich nehmen, würde dadurch gegen den Bewährungsgedanken verstoßen und müsste doch ins Gefängnis. Eine andere Chance hat er nicht. Zunächst. Eine neue Runde in dem Rechtsstreit wird es in jedem Fall geben. Wenn die Zeit reicht, bis zum Bundesverfassungsgericht.

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