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Der Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Bernau

Wir bedanken uns beim Hanf Journal und beim Deutschen Hanf Verband dafür, dass sie dieses Dokument online gestellt haben. Eine Adobe-PDF-Datei davon ist auf der Website des DHV zu finden: http://www.hanfverband.de/aktuell/VorlageBernau100GG.pdf

Folgende einfache HTML-Fassung gibt den Text jener PDF-Datei wieder.

Siehe auch:


3 Cs 224 Js 36463/01 (387/01)
Dies ist die per optischer Zeichenerkennung erstellte
Version des Dokuments, unter Erhaltung der
Seitenangaben, trotz genauer Nachprüfung besteht
keine Garantie für den Inhalt; zum Zitieren bitte sicherheitshalber die
Originalstellen nachlesen:

http://www.hanfverband.de/aktuell/klage.pdf





Amtsgericht Bernau

Beschluss

In der Strafsache
gegen
#######################
geboren am ##############
wohnhaft: #################
ledig, Deutscher
wegen Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz

hat das Amtsgericht Bernau - Jugendrichter - aufgrund der öffentlichen
Hauptverhandlung vom 11. März 2002, an der teilgenommen haben:

Richter am Amtsgericht
Müller als Vorsitzender,

Staatsanwalt Seidel
als Beamter der Staatsanwaltschaft,

Rechtsanwältin Gamm
als Verteidigerin,

Justizangestellte Schade
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

-2-

beschlossen:
Das Amtsgericht Bernau hält alle Regelungen des Betäubungsmittelgesetzes, soweit sie
Cannabisprodukte in der Anlage I zu § l Abs. l BtmG mit der Folge aufführen, dass der
unerlaubte Verkehr mit diesen Stoffen den Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes
unterliegt, für verfassungswidrig.

Hilfsweise hält das Amtsgericht Bernau die Strafvorschrift des § 29 Abs. l Nr. l BtmG
in den Alternativen des Erwerbens oder des sich in sonstiger Weise Verschaffens sowie
§ 29 Abs. l Nr. 3 BtmG jeweils i. V. m. der Anlage I zu § l Abs. l BtmG für
verfassungswidrig.

Das Verfahren wird ausgesetzt und gemäß Artikel 100 Abs. l GG dem Bundesverfassungsgericht
zur Entscheidung vorgelegt.

G r ü n d e :
I.
Sachverhalt und Prozessgeschichte

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, nämlich des Geständnisses des Angeklagten,
steht fest, dass dieser am 17.08.2001 gegen 00:30 Uhr auf einem Parkplatz in der
Leipziger Straße 126 in Berlin in seiner rechten Hosentasche eine Tüte mit einem
Cannabistabakgemisch von 1,5 g brutto sowie einem Stück Cannabis mit einem
Nettogewicht von 3,6 g mit sich geführt und zuvor erworben oder sich in sonstige Weise
verschafft hat. Der Angeklagte war nicht im Besitz irgendwelcher Dokumente, die den
Erwerb oder Besitz dieser Betäubungsmittel durch ihn hätten legitimieren können. Der
Angeklagte wurde nach seinem polizeilichen Ergreifen zunächst einer
erkennungsdienstlichen Behandlung unterzogen. Er wurde dann verantwortlich
vernommen. Der Angeklagte äußerte sich damals nicht zur Sache.

- 3

Nach Abschluss der Ermittlungen wurde das Verfahren zur Entscheidung an die
Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin abgegeben. Diese übersandte das
Verfahren gemäß der §§ 42, 108 JGG der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder). Die
Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) erklärte sich zuständig und nahm folgenden Vermerk
in die Akte auf:

„Die beim Beschuldigten gefundenen 3,6 g Betäubungsmittel liegen weit oberhalb der
Grenze von 3 Konsumeinheiten, bis zu der im Land Brandenburg noch von einer
geringen Menge im Sinne des § 31 a BtmG ausgegangen wird/'

Die Staatsanwaltschaft Frankfurt / Oder beantragte daraufhin gegen den Angeklagten
den Erlass eines Strafbefehls in Höhe von 30 Tagessätzen zu je 55,00 DM. Das Gericht
beraumte von Amts wegen Termin zur Hauptverhandlung an. Im
Hauptverhandlungstermin am 17.12.2001 regte das Gericht an, das Verfahren gemäß §
31 a BtmG einzustellen. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft erteilte hierzu seine
Zustimmung nicht. Lediglich eine Einstellung gemäß § 153 a StPO bzw. gemäß der
§§ 45, 47 JGG, jeweils gegen Geldauflage in Höhe von 400,00 bis 500,00 DM wurde
seitens des Sitzungsvertreters akzeptiert. Der Angeklagte und das Gericht waren hierzu
nicht bereit. In Folge setzte das Gericht das Verfahren zur ersten Prüfung einer
möglichen Verfassungswidrigkeit der anzuwendenden Betäubungsmittelvorschriften aus,
Zu dem neu anberaumten Hauptverhandlungstermin lud das Gericht die
Sachverständigen Prof. Dr. Dieter Kleiber von der Freien Universität Berlin, Dr. Peter
Cohen von der Universität Amsterdam sowie Prof. Ambrus Uchtenhagen vom Institut
für Suchtforschung in Zürich. Zugleich holte es eine behördliche Auskunft des
Bundesministers für Gesundheit ein.

Im Rahmen der am 11.03.2002 durchgeführten Hauptverhandlung wurde zu der
Gefährlichkeit von Cannabisprodukten Beweis erhoben. Die geladenen Sachverständigen
wurden gutachterlich gehört und die zwischenzeitlich eingegangene behördliche
Auskunft des Bundesministers für Gesundheit verlesen. Nach Schluss der
Beweisaufnahme beantragte die Staatsanwaltschaft den Angeklagten zu einer Geldstrafe
von 15 Tagessätzen zu je 30,00 € zu verurteilen. Die Verteidigerin beantragte dagegen

-4-

das Verfahren auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung
vorzulegen.

Nach Unterbrechung der Hauptverhandlung wurde das Verfahren ausgesetzt und dem
Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt. Aufgrund der durchgeführten
Beweisaufnahme musste das Amtsgericht Bernau feststellen, dass die Wirkungen und
Konsequenzen des Cannabiskonsums nicht die Gefährlichkeit besitzen, wie dies noch
1994 angenommen wurde. Aufgrund der gutachterlichen Stellungnahmen konnte weiter
festgestellt werden, dass zwischen Cannabiskriminalisierung und Cannabiskonsum
keinerlei Zusammenhang besteht und dass insbesondere eine Kriminalisierung nicht zur
Eindämmung des Cannabiskonsums führt. Unter weiterer Prüfung
rechtswissenschaftlicher Literatur und Judikatur konnte das Gericht darüber hinaus die
rechtliche Überzeugung gewinnen, dass eine Vereinheitlichung der
Rechtsanwendungspraxis in der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit
dem Eigenkonsum von Cannabisprodukten nicht erfolgt ist.

Nach Aussetzung des Verfahrens erteilte die Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) mit
Fax vom 15.03.2002 sodann die Zustimmung zur Einstellung des Verfahrens gemäß §
31 a Abs. 2 BtmG. Die zuständige Staatsanwaltschaft begründete ihre nunmehr erfolgte
Zustimmung damit, dass die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg
nunmehr die Richtlinie für die Staatsanwaltschaften des Landes Brandenburg zur
Anwendung der Opportunitätsvorschriften im Betäubungsmittelgesetz vom 17.09.1993
verbindlich konkretisiert habe. So sei ab sofort von einer geringen Menge an
Betäubungsmitteln zum Eigenverbrauch im Sinne des § 31 a BtmG bis zu einer Menge
von 6 g verbindlich auszugehen.

Der Schriftsatz der Staatsanwaltschaft vom 15.03.2002 wurde der Verteidigerin zur
Stellungnahme übersandt. Diese erklärte mit Schriftsatz vom 28.03.2002, dass sie im
Einvernehmen mi t dem Angeklagten eine Zustimmung zur Einstellung des Verfahrens
gemäß § 31 a BtmG nicht erteile. Zur Begründung führt sie an, dass aufgrund der
durchgeführten Beweisaufnahme der Angeklagte letztlich freizusprechen sei. Es
verbliebe insoweit bei der Ansicht, dass die anzuwendenden Vorschriften
verfassungswidrig seien.

-5-

II.
Zulässigkeit der Vorlage

A.
Zulässigkeit soweit Cannabisprodukte in der Anlage I zu § l Abs. l BtmG aufgeführt
werden

Die Vorlage ist zunächst zulässig, soweit dem Bundesverfassungsgericht alle
Regelungen des Betäubungsmittelgesetzes zur verfassungsrechtlichen Überprüfung
vorgelegt werden, die Cannabisprodukte in Verbindung mit der Anlage I zu § l Abs. l
BtmG mit der Folge aufführen, dass der unerlaubte Verkehr mit diesen Stoffen den
Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes unterliegt. Das vorlegende Gericht ist
überzeugt von der Verfassungswidrigkeit diesen Normen. Da die Vorschriften des § 29
Abs. l Nr. l und Nr. 3 BtmG nur im Zusammenwirken mit § l Abs. l BtmG i. V. m. d.
Anlage I die Strafbarkeit eines wie hier zu beurteilenden Verhaltens begründet, kommt
es mithin für die rechtliche Beurteilung des festgestellten Sachverhalts zunächst einmal
auf das grundsätzliche Aufführen von Cannabisprodukten im Betäubungsmittelgesetz
an.

1. Bisherige Verfassungsgerichtsrechtssprechung

Mit seinem Beschluss vom 09.03.1994 - 2 Bv L 43/49-(BVerfGE 90, 145 ff) hat das
Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes,
soweit sie Verhaltensweisen im Umgang mit Cannabisprodukten mit Strafe
bedrohen, dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entsprechen und hat diesbezügliche
strafrechtliche Eingriffe in die Grundrechte aller Bürger als verfassungsgemäß
angesehen.

Dies deshalb - so das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 09.03.1994
- weil der Gesetzgeber mit der Aufnahme der Cannabisprodukte in das

-6-

Betäubungsmittelgesetz einen legitimen Zweck Verfolge und die diesbezüglichen
Strafvorschriften geeignet und erforderlich seien. So hat das Bundesverfassungsgericht
ausgesprochen, dass die Zielsetzung des seinerzeit geltenden Betäubungsmittelgesetzes,
nämlich die Gesundheit des einzelnen sowie der Bevölkerung im Ganzen vor den von
Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren zu schützen und die Bevölkerung, vor allem
Jugendliche vor Abhängigkeit von Betäubungsmittel zu bewahren, vor der Verfassung
Bestand habe. Es sei verfassungsrechtlich hinnehmbar, dass der Gesetzgeber auf dem
Hintergrund einer noch nicht abgeschlossenen medizinischen und kriminalpolitischen
Diskussion an seiner Auffassung festhalte, dass das generell strafbewährte
Cannabisverbot zum Rechtsgüterschutz besser geeignet sei als eine Freigabe des
Betäubungsmittel Cannabis. (vgl. BVerfGE 90, 145, 196).

Andererseits hat das Bundesverfassungsgericht angesichts der seinerzeit „offenen
kriminalpolitischen und wissenschaftlichen Diskussion über die vom Cannabiskonsum
ausgehenden Gefahren und den richtigen Weg ihrer Bekämpfung" den Gesetzgeber
angewiesen, „die Auswirkung des geltenden Rechts unter Einschluss der Erfahrung des
Auslandes zu beobachten und zu überprüfen" (BVerfGE 90, 145, 194). Er habe dabei
insbesondere einzuschätzen, „ob und inwieweit die Freigabe von Cannabis zu einer
Trennung der Drogenmärkte führen und damit zur Eindämmung des
Betäubungsmittelkonsums insgesamt beitragen kann oder umgekehrt nur die
strafbewährte Gegenwehr gegen den Drogenmarkt insgesamt und die sie bestimmende
organisierte Kriminalität hinreichenden Erfolg verspricht".

Mit Beschluss der 2. Kammer des 2. Senats vom 10.06.1997 hat das
Bundesverfassungsgericht ohne eine erneute Prüfung und unter Bezugnahme auf die
Entscheidung vom 09.03.1994 die bisherige Rechtsprechung bestätigt. Ausschlaggebend
hierfür war letztlich, dass nach der Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts auch
seinerzeit die Ergebnisse des wissenschaftlichen Meinungsstreits nach wie vor „noch
keine solche Festigkeit aufweisen würden, die den Gesetzgeber von Verfassungswegen
zu einer Änderung der Betäubungsrnittelregelungen zwänge" (vgl. BVerfG, NStZ 1997,
498).

Wohl auch auf Grund der Aufforderung an den Gesetzgeber, jederzeit den
wissenschaftlichen Stand zu prüfen, hat das Bundesministerium für Gesundheit im

-7-

Jahre 1996 Expertisen zu pharmakologischen, toxikologischen, psychosozialen
Auswirkungen des Cannabiskonsums im Auftrag gegeben. Die Untersuchungen der
Wissenschaftler Kleiber / Kovar, deren Ergebnisse im Rahmen der Begründetheit der
Verfassungswidrigkeit näher ausgeführt werden, liegen dem
Bundesgesundheitsministerium bereits seit 1997 vor. Sie belegen, dass Wirkungen und
Konsequenzen des Cannabiskonsums nicht die Gefährlichkeit besitzen wie sie durch
das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1994 unter anderem auch auf Grund der damals
eingeholten Stellungnahme des Bundesministers für Gesundheit angenommen wurde.
So kommen die untersuchenden Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass die mit dem
Cannabiskonsum einhergehenden Probleme und Komplikationen wesentlich geringer
ausfallen als bisher allgemein angenommen und befürchtet wurde (vergleiche Kleiber /
Kovar, Auswirkungen des Cannabiskonsums, Berlin / Tübingen 1997, S. 252 - entgegen
der üblichen Vorgehensweise nicht veröffentlicht in der offiziellen Schriftreihe des
Bundesministeriums für Gesundheit -; vgl. auch Kleiber/Soellner, Cannabiskonsum,
München 1998, S. 229 ff). Auch die hier in der Hauptverhandlung gehörten
Sachverständigen Prof. Dr. Cohen und Prof. Dr. Kleiber erklärten dem Gericht, dass im
Rahmen der internationalen Untersuchungen hinsichtlich des Betäubungsmittels
Cannabis heute Einverständnis dahingehend bestehe, dass mit diesem Rauschmittel nur
geringe Risiken verbunden seien und dies auch nur für wenige Personen. Bestätigt
wurden diese Auffassungen auch von dem weiter angehörten Sachverständigen Prof.
Uchtenhagen.

Schließlich spricht auch das Bundesministerium für Gesundheit trotz ausdrücklicher
Nachfrage des Gerichts in der erteilten behördlichen Auskunft nicht mehr davon, dass
es sich bei Cannabisprodukten um riskante Drogen handele. Der Bundesminister für
Gesundheit verweist vielmehr unter anderem auch auf eine Studie, wonach Alkohol
wesentlich gefährlicher ist als das Rauschmittel Cannabis.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen vom 09.03.1994 und
10.06.1997 den Gesetzgeber verpflichtet, die von ihm erlassenen Gesetze hinsichtlich
der Strafbarkeit des Umgangs mit Cannabisprodukten zu überdenken und
gegebenenfalls abzuändern. Der Gesetzgeber habe „darüber zu wachen, dass
Strafvorschriften jederzeit materiell im Einklang mit den Bestimmungen der

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Verfassung stehen und den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen sowie
Grundentscheidungen des Grundgesetzes entsprechen" (vgl. BVerfG NJW 97, 1910,
1911).

Zur Überzeugung des Amtsgerichts Bernau liegen mittlerweile - und zwar in Kenntnis
des Gesetzgebers auf nationaler und internationaler Ebene neueste fundierte
wissenschaftliche Forschungsergebnisse vor, die belegen, dass an den 1994 erfolgten
Einschätzung der Risiken im Zusammenhang mit dem Betäubungsmittel Cannabis heute
nicht mehr festgehalten werden kann. Da der Gesetzgeber diese wissenschaftlichen
Ergebnisse kennt, aber hierauf nicht reagiert, ist nunmehr die erneute Anrufung des
Bundesverfassungsgerichts erforderlich. Denn jedenfalls die Gerichte sind jederzeit
verpflichtet, bestehende Gesetze auf deren Verfassungsgemäßheit gemäß Artikel 97
Abs. l GG zu überprüfen.

Da das vorlegende Gericht seine Entscheidung auf neue Tatsachen stützt und insoweit
eine Veränderung der rechtlichen Gesichtspunkte vorträgt, ist die erneute Vorlage
zulässig (vgl. Umbach/Clemenz, Kommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz
1992 zu § 80 RNr. 30 a mit Nachweisen aus der Bundesverfassungsgerichtssprechung).

2.
Entscheidungserheblichkeit bezüglich Aufnahme von Cannabisprodukten in der Anlage
I zu § l BtmG

Unter Würdigung der dem Gericht dargelegten Forschungsergebnisse ist das
Amtsgericht Bernau der Überzeugung, dass die gesamte Kriminalisierung des Umgangs
mit dem Betäubungsmittel Cannabis und damit die diesbezügliche Aufnahme von
Cannabisprodukten in der Anlage I i. V. m. § l BtmG verfassungswidrig ist. Die
Anrufung des Bundesverfassungsgerichts ist für die im vorliegenden Verfahren zu
erfolgende Entscheidung entscheidungserheblich. Angesichts des prozessualen Standes
des vorgelegten Verfahrens wäre, sofern die Rechtsauffassung des Amtsgerichts vor
dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben sollte, der Angeklagte aus rechtlichen
Gründen freizusprechen. Denn die Aufnahme von Cannabisprodukten in der Anlage I

- 9 -

führt i. V. m. § l BtmG und § 29 BtmG erst zu strafbewährtenVerhalten.
3. Keine verfassungskonforme Auslegung möglich
Durch die Aufnahme von Cannabisprodukten in das Betäubungsmittelgesetz macht
sich jeder, der mit solchen Produkten auch nur im minimalen Umfang umgeht, nach
dem klaren und eindeutigen Normtext strafbar. Nach ständiger
Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Vorlageverfahren gem. Art.
100 Abs. l GG dann nicht zulässig, wenn eine verfassungskonforme Auslegung
möglich ist (vgl. BVerfGE 32, 373, 383; 48, 40, 45; 54, 251, 273). Eine
verfassungskonforme Auslegung möglicherweise dahingehend, dass bei geringen
Mengen freizusprechen ist, scheitert vorliegend an der Auslegungsfähigkeit
der Norm. So darf nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts eine verfassungskonforme Auslegung nicht dazu führen,
dass der normative Gehalt und Zweck der Rechtsvorschrift geändert wird (vgl.
BVerfGE 78, 20, 24; 71, 81, 105; 54, 277, 209). Dies gilt insbesondere dann, wenn es
dem Gesetzgeber von Verfassungswegen freigestellt ist, auf eine Regelung ganz zu
verzichten oder sie durch andere inhaltlich abweichende verfassungsgemäße Normen
zu ersetzen. Im Rahmen der Pönalisierung des Cannabiskonsums hat der
Gesetzgeber bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt deutlich gemacht, dass er die gesamte
Cannabispönalisierung will. Er hat trotz Möglichkeit und
verschiedener Gesetzesentwürfe (vgl. u. a. Gesetzesentwurf der SPD-Fraktion im
Bundestag Bt-Drs. 13/6534 sowie zahlreiche Gesetzesanträge der
Länder bei Körner, Betäubungsmittelgesetz Anhang C l RdNr. 283 ff) eine
Teilentkriminalisierung nicht für notwendig erachtet. Wenn dem aber so ist, würde
das Gericht sofern es bei geringen Mengen freisprechen würde, die Aufgabe der
Legislative übernehmen.

Auch die Möglichkeit des Gerichts gem. § 29 Abs. 5 BtmG von Strafe abzusehen, kann
hier nicht zu einer verfassungskonformen Auslegung und Anwendung der vorgelegten
Vorschriften führen. Denn diese Norm setzt zunächst voraus, dass sich der Angeklagte
gem. § 29 Abs. l Nr. l bzw. Nr. 3 BtmG strafbar gemacht hätte und grundsätzlich ein
Schuldspruch erfolgen müsste (vgl. dazu: Körner, BtmG - Kommentar, 5. Aufl., 2001 zu
§ 29 Rdnr. 1640). Das vorlegende Amtsgericht geht aber - wie dargestellt - von einer
Verfassungswidrigkeit dieser Vorschriften in Bezug auf Cannabis aus. Schon ein aus § 29
Abs. l Nr. l bzw. Nr. 3 BtmG folgender Schuldspruch wäre dementsprechend

- 10-

verfassungswidrig. Hinzu kommt, dass auch bei Anwendung des § 29 Abs. 5 BtmG dem
Angeklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen wären (vgl. auch S. 15).
Da eine verfassungskonforme Auslegung mithin nicht möglich ist, verbleibt es an einer
Entscheidungserheblichkeit.

Nur durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Frage der
Verfassungsgemäßheit der vorgelegten Vorschriften des Betäubungsmittelgesetz erhält
das vorlegende Amtsgericht die Möglichkeit, die verfassungswidrigen Normen nicht
anzuwenden und den Angeklagten freizusprechen.

B.
Zulässigkeit bezüglich der hilfsweise zur Überprüfung vorgelegten § 29 Abs. l Nr. l
BtmG und § 29 Abs. l Nr. 3 BtmG

Sofern man jedoch nach wie vor der Ansicht sein sollte auch die neuesten
wissenschaftlichen Erkenntnisse führten nicht dazu, dass die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 09.03.1994 entsprechend der Vorlage des Landgerichts
Lübeck vom 19.12.1991 (vgl. NJW 1992, 1571 ff), auf die Bezug genommen wird.
geändert werden müsste, ist die Vorlage des Amtsgerichts Bernau gleichwohl bezüglich
der hilfsweise zur Überprüfung gestellten Vorschriften zulässig.

1. Bisherige Bundesverfassungsgerichtsrechtsprechung

In seinem Beschluss vom 09.03.1994 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt,
dass die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes, soweit sie Verhaltensweisen
mit Strafe bedrohen, die wie vorliegend ausschließlich den gelegentlichen
Eigenverbrauch geringer Mengen von Cannabisprodukten vorbereiten und nicht mit
einer Fremdgefährdung verbunden sind, deshalb nicht gegen das verfassungsmäßige
Übermaßverbot verstoßen, weil der Gesetzgeber es den Strafverfolgungsbehörden
ermöglicht, durch das Absehen von Strafe (§ 29 Abs. 5 BtmG) oder von
Strafverfolgung (§§. 153 ff StPO, 31 a BtmG) einem geringen individuellen Unrecht und
Schuldgehalt der Tat Rechnung zu tragen. Das Bundesverfassungsgericht führte weiter

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aus, dass in diesen Fällen die Strafverfolgungsorgane nach dem Übermaßverbot von der
Verfolgung der bezeichneten Straftaten regelmäßig abzusehen hätten. Insoweit hat das
Bundesverfassungsgericht bereits seinerzeit die stark uneinheitliche Einstellungspraxis
in den Ländern beanstandet und eine einheitliche Anwendung des § 31 a BtmG bei
Cannabisdelikten sowie eine Angleichung der Grenzwerte auf Bundesebene durch eine
einheitliche Richtlinie gefordert (vgl. BVerfGE 90, 145, 190, 191).

Nach nunmehr über acht Jahren, in denen die Strafverfolgungsbehörden diesen
Beschluss anzuwenden und die verfassungskonforme Auslegung der Strafvorschriften
des Betäubungsmittelgesetz in die Praxis umzusetzen hatten, zeigt sich, dass die
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht eingehalten werden. So haben bis auf
die Bundesländer Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Thüringen alle
anderen Richtlinien geschaffen, allerdings in unterschiedlicher Form. So besteht einmal
das Modell „Obergrenze", bis zu der von einer geringen Menge Cannabis ausgegangen
werden kann: Baden Württemberg bei 3 Konsumeinheiten, Bayern bis zu 6 g, Bremen
bis zu 10 g, Brandenburg bis zu 3 Konsumeinheiten, Hamburg bis zu 10 g, Rheinland-
Pfalz bis zu 10g, Nordrhein-Westfalen bis zu 10g, Schleswig-Holstein bis zu 30 g. In
anderen Bundesländern besteht das Modell „Untergrenze". So haben die Länder Berlin,
Hessen, Niedersachsen, Saarland und Sachsen-Anhalt eine Untergrenze festgelegt, bis
zu der von der Verfolgung abgesehen werden muss und eine Obergrenze, bis zu der von
der Verfolgung abgesehen werden kann. - Berlin: 6 g bis zu 15 g - Niedersachsen: 6 g
bis zu 15 g - Saarland: 6 g bis zu 10 g - Sachsen-Anhalt: 6 g ohne Obergrenze - Hessen:
6 g bis zu 15 g - (vgl. zum Ganzen Körner a. a. O. zu § 31 a Rdnr. 29 ff; Aulinger,
Rechtsgleichheit und Rechtswirklichkeit bei der Strafverfolgung von
Drogenkonsumenten - Endbericht eines Forschungsprojekts der Kriminologischen
Zentralstelle Wiesbaden e. V. / Susanne Aulinger. Im Auftrag des Bundesministeriums
für Gesundheit Baden-Baden 1997 - aufgenommen in die offizielle Schriftenreihe des
Bundesministeriums für Gesundheit, Bd. 89, S. 104).

Abgesehen von den unterschiedlichen Richtlinien hinsichtlich der zuvor dargelegten
Mengen bestehen weitere Auffassungsunterschiede bezüglich der Behandlungen von
Wiederholungstätern sowie der Anwendung der Richtlinien auf Jugendliche und
Heranwachsende. Während einige Länder die Richtlinien nur für Ersttäter gelten lassen

- 12-

wollen, stellen andere Länder die Strafverfahren auch regelmäßig bei
Wiederholungstätern ein (vgl. Aulinger a. a. O., S. 114 ff.). In Bereich des
Jugendstrafrechts sehen einige Richtlinien darüber hinaus vor, dass die Anwendung des
§ 31 a BtmG nicht angezeigt sei (vgl. Aulinger a. a. O., S. 127). Markante Unterschiede
zeigen sich darüber hinaus auch im polizeilichen Ermittlungsverfahren. Während in
einigen Ländern auch bei Vorfindung geringer Mengen in 40 % aller Fälle
Hausdurchsuchungen erfolgen, finden solche Strafverfolgungsmaßnahmen in anderen
Ländern kaum statt (vgl. Aulinger a. a. O., zum polizeilichen Ermittlungsaufwand S.
123 ff. zu Hausdurchsuchungen S. 250). Schließlich ist zu sehen, dass selbst in einem
Bundesland die verschiedenen Staatsanwaltschaften im Bereich des § 31 a BtmG trotz
gleicher Richtlinien unterschiedlich agieren (vgl. Aulinger a. a. O., S. 189),
Nach Beschlussverkündung in vorliegender Sache erklärte der Generalstaatsanwalt des
Landes Brandenburg in Konkretisierung der Richtlinie für die Staatsanwaltschaften des
Landes Brandenburg zur Anwendung der Opportunitätsvorschriften im
Betäubungsmittelgesetz vom 17.09.1993 eine nunmehr landeseinheitliche verbindliche
Rechtsauffassung, wonach von einer geringen Menge an Betäubungsmitteln zum
Eigenverbrauch im Sinne des § 31 a BtmG bei Cannabis in einer Menge von bis zu 6 g
auszugehen sei.

Ähnlich aber im Sinne einer Verschärfung der Richtlinien reagierte das Land Hessen
mit einer Rund Verfügung der dortigen Generalstaatsanwaltschaft vom 22.10.2001. So
wurde mit dieser Rundverfügung die ehemals bestehenden Rundverfügungen vom
12.02.1992 und vom 21.07.1995 dahingehend abgeändert, dass die ehemals bestehende
.Obergrenze zur Möglichkeit einer Einstellung nach § 31 a BtmG von 30 g auf eine
Obergrenze von 15 g abgeändert wurde.

Bereits bei Sichtung der zuvor dargelegten Richtlinien zeigt sich, dass eine
Vereinheitlichung im Bundesgebiet nicht erfolgt ist. So wäre es im vorliegenden
Verfahren nach den Richtlinien des Bundeslandes Berlin - zwingender Einstellung bis 6
g - nicht zum Antrag auf Erlass eines Strafbefehls oder aber zu einem gerichtlichen
Strafverfahren gekommen. Vielmehr wäre das Verfahren eingestellt worden. Da aber
der zum Tatzeitpunkt heranwachsende Angeklagte in vorliegender Sache seinen
Wohnsitz im Bundesland Brandenburg hatte und auf Grund der insoweit anderen

- 13 -

Zuständigkeit (Gerichtsstand des Aufenthaltsortes gemäß §§ 42, 108 JGG) in die
Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft Brandenburg fiel, wurde er mit dem vorliegenden
Strafverfahren überzogen. Dies erfolgte, dem zuständigen Staatsanwalt zufolge, deshalb,
weil die bei dem Beschuldigten gefundenen Betäubungsmittel „weit oberhalb der
Grenze von 3 Konsumeinheiten, bis zu der im Land Brandenburg noch von einer
geringen Menge im Sinne des § 31 a BtmG ausgegangen wird" lägen. Im
Jugendstrafverfahren stellt dieser Fall keinen Einzelfall dar. Er zeigt jedoch die
rechtsstaatlich nicht mehr nachvollziehbare unterschiedliche Praxis der Bundesländer.
Soweit der Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg gerichtsbekannt im Hinblick
auf das vorliegende Verfahren nunmehr seine Rechtsauffassung landesverbindlich
erklärte, zeigt dies wie auch die Abänderung der Richtlinien in Hessen, darüber hinaus
deutlich, wie willkürlich im Bereich der Festsetzungen von Grenzwerten verfahren
werden kann und verfahren wird. So könnte bereits morgen ein anderer
Generalstaatsanwalt möglicherweise seine Rechtsauffassung wieder dahingehend
verbindlich erklären, dass 3 Konsumeinheiten nur bei einer Menge von bis zu l g
Cannabis vorlägen.

Da es den Ländern trotz Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1994
nicht gelungen ist, eine Angleichung der Grenzwerte auf Bundesebene herbeizuführen,
ist das eingetreten, was das Bundesverfassungsgericht bereits 1994 als letztlich nicht
hinnehmbar betrachtete, nämlich, dass Behörden in den Ländern durch allgemeine
Weisungen die Verfolgung bestimmter Verhaltensweisen nach abstrakt-generellen
Merkmalen wesentlich unterschiedlich festlegen (vgl. BVerfGE 90, 145, 191 s. auch
abweichende Ansicht Sommer S. 224).

Da die 1994 durch das Bundesverfassungsgericht gewählte sogenannte prozessuale
Lösung offenkundig und für jedermann nachvollziehbar zu einem unheitlichen und so
durch das Bundesverfassungsgericht nicht gewollten Ergebnis geführt hat, bedarf es,
um eine klare Vereinheitlichung herbeizuführen, einer weiteren Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts (vgl. auch Siebel, Drogenstrafrecht in Deutschland und
Frankreich, Dissertation 1996, S. 249).

- 14-

2. Entscheidungserheblichkeit

Unter Berücksichtigung der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und der in der
Beweisaufnahme eingebrachten internationalen Vergleiche ist zumindest die
Überprüfung der hilfsweise als verfassungswidrig angesehenen Normen des § 29 Abs. l
Nr. l und 3 BtmG, wie in der Beschlussformel genannt, unerlässlich. Denn jedenfalls
soweit es lediglich um Verhaltensweisen geht, die dem eigenen Konsum von geringen
Mengen Cannabis dienen, sind diese nach Ansicht des Gerichts im Rahmen des § 29
BtmG insgesamt verfassungswidrig. Auf die Gültigkeit dieser Rechtsnormen kommt es
für die hier zu treffende Entscheidung auch an. Nachdem sämtliche
Einstellungsversuche scheiterten, könnte das vorliegende Verfahren nur mit einem
Urteil beendet werden. Wenn die vom Amtsgericht beanstandeten Normen nicht
verfassungswidrig und damit gültig wären, müsste der Angeklagte verurteilt werden.
Wären sie dagegen - entsprechend der Ansicht des Amtsgerichts - zumindestens
aufgrund eines zuweit gefassten Tatbestandes verfassungswidrig, so wäre der
Angeklagte freizusprechen. Nur diese Entscheidung und keine andere wäre dann
geboten.

Das Amtsgericht Bernau sieht sich auch nicht in die Lage versetzt, im Rahmen des §
29 Abs. 5 StPO von Strafe abzusehen und insoweit verfassungsgemäß auf das
Verhalten des Angeklagten zu reagieren.

An einer solchen entsprechend der 1994 gewählten prozessualen Lösung angedachten
Verurteilung gemäß § 29 Abs. 5 BtmG sieht sich das Amtsgericht aus folgenden
Gründen gehindert. Zunächst einmal weiß das Amtsgericht Bernau - einfach dargelegt -
nicht, bei welcher Menge ein Absehen von Strafe angezeigt ist. Sind es etwa 3
Konsumeinheiten., wie im Land Brandenburg oder Baden-Württemberg, oder sind es l
g, 5 g , 10g, 1 5 g oder 30 g, wie im Land Schleswig Holstein oder ist es entsprechend
der Entscheidung der Obergerichte noch bis zu 6 g möglich, den § 29 Abs. 5 BtmG in
Anwendung zu bringen (vgL zum Streitstand: Wienröder, Kommentar zum
Betäubungsmittelgesetz § 29 RNr. 232 ff.). Abgesehen hiervon wäre gem. § 29 Abs. 5
BtmG die Schuld des Angeklagten festzustellen. Dem Angeklagten würde mithin
seitens des Staates dargelegt, dass er sich außerhalb der Rechtsgemeinschaft gestellt

- 1 5 -

habe. Er würde damit staatlich stigmatisiert und inkriminiert werden. Es bliebe ein
Rechtswidrigkeit- und Unwerturteil der Gesellschaft über das Verhalten des
Angeklagten erhalten (vgl. insoweit auch BVerfGE 6, 7 ff.; 13, 97 ff., 103). Das
allgemeine Persönlichkeitsrecht des Angeklagten würde hierdurch verletzt. Hinzu
kommt, dass bei einem Absehen von Strafe gemäß § 29 Abs. 5 BtmG der Angeklagte
gemäß § 465 Abs. l Satz 2, 2. Alternative StPO die Kosten des Verfahrens, mithin
eigene Anwaltskosten, eigene Fahrtkosten, eigene Ausfallkosten sowie Auslagen des
Gerichts zu tragen hätte (vgl. Nellis/Velten, NStZ 94, S. 366, 367; Büttner, Eine
verfassungsrechtliche Bewertung des Betäubungsmittelstrafrechts - zum
Cannabisbeschluss des Bundesverfassungsgerichts - Dissertation, Frankfurt am Main
1996, S. 146). insgesamt würde der Angeklagte zwar nicht mit Strafe versehen, aber
doch letztlich einer strafgleichen Sanktion unterzogen werden. Er hätte die durch die
Nichtbeachtung des Übermaßverbotes erfolgten Kosten zu tragen.
Schließlich käme die Anwendung des § 29 Abs. 5 BtmG nur in Betracht, wenn
entgegen der Ansicht des Amtsgerichts die Vorschrift des § 29 Abs. l Nr. l bzw. Nr. 3
BtmG verfassungsgemäß wäre. Dies ist aber zur Überzeugung des Gerichts gerade nicht
der Fall.

3. Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung

Schließlich ist dem Amtsgericht auch hier eine verfassungskonforme Auslegung nicht
möglich. Dies ergibt sich aus denselben Erwägungen, die schon im Rahmen der
Zulässigkeit der grundsätzlichen Kriminalisierung der Cannabisprodukte dargestellt
wurde (s. oben S. 9, 10).

- 16-

III.
Begründetheit

A. Grundsätzliche Verfassungswidrigkeit der Strafbarkeit des Umgangs mit
Cannabisprodukten

Das Aufführen von Cannabisprodukten in der Anlage I zu § l BtmG mit der Folge, dass
das Umgehen mit Cannabisprodukten jeglicher Art und Menge unter Strafe gestellt und
Geldstrafe oder Freiheitsstrafe für das Umgehen mit Cannabisprodukten verhängt
werden kann, ist unter Würdigung des gegenwärtigen wissenschaftlichen Urkenntnisstandes
mit wesentlichen Regelungen des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren, mithin
verfassungswidrig.

l. Verstoß gegen Art. 2 Abs. l GG

Art. 2 Abs. l GG schützt alle Formen menschlichen Verhaltens unabhängig davon, in
welchem Grad sie zur Entfaltung der Persönlichkeit beitragen (vgl. BVerfGE 6, 32, 36; 54,
143, 146; 80, 137; 152 ff). Der Bundesgesetzgeber verbietet in den §§ l Abs. l, 29 ff.
BtmG i. V. m. der Anlage I zu diesem Gesetz Handlungen, die dem Konsum von
Cannabis notwendig vorausgehen oder ihn begleiten, nämlich Anbau, Erwerb, Besitz,
Veräußerung und Einfuhr. Diese Handlungen stellt der Bundesgesetzgeber unter Strafe.
Damit bezweckt er, den Konsum von Cannabis zu unterbinden. Er greift somit in den
Schutzbereich des Art. 2 Abs. l GG ein.

Der Umgang mit Cannabisprodukten gehört jedoch nicht zum absolut geschützten
Kernbereich des Grundrechts, weil der Umgang mit Cannabis und das Sichberauschen
hiermit auf Grund seiner vielfältigen sozialen Aus- und Wechselwirkungen über den
Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltungen hinausgehen (vgl. BVerfGE 90, 145 ff.,
171). Unter Berücksichtigung dieser Auslegung des Art. 2 Abs. l GG ist daher dem
Gesetzgeber von Verfassungswegen nicht grundsätzlich untersagt auch den
Cannabiskonsum zu regeln. Allerdings müssen alle eingreifenden Regelungen des
Betäubungsmittelgesetzes gemäß Art. 2 Abs. l GG Bestandteil der verfassungsmäßigen
Ordnung sein. Sie müssen mithin den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen sowie

- 17-

Grundentscheidungen des Grundgesetzes entsprechen (vgl. BVerfGE 80, 244, 255 mit
weiteren Nachweisen). Dazu gehört insbesondere, dass sich die eingreifenden Regelungen
als verhältnismäßig erweisen.

Das Aufführen von Cannabisprodukten wäre nur dann verhältnismäßig im
verfassungsrechtlichen Sinne, wenn dies einen legitimen Zweck verfolgen und hierzu ein
zulässiges Mittel eingesetzt würde. Das Mittel müsste sodann geeignet und schließlich
auch erforderlich sein. Auch darf es zur Erreichung des Zwecks kein weniger stark in die
Grundrechtsausübung eingreifendes aber gleich geeigneten Mittel geben. Schließlich
dürfen die an sich geeigneten und erforderlichen Mittel keine Grundrechtseingriffe bei den
Betroffenen bewirken, die im Vergleich mit der durch sie möglichen Zweckerreichung
oder wenigstens Annäherung unangemessen sind (so das Bundesverfassungsgericht in
ständiger Rechtsprechung zum Verhältnismäßigkeitsprinzip, vgl. m. w. N.: BVerfGE 61,
291, 312; 76, 196, 207; 83, l, 16; 90, 145, 172 ff.). Das so beschriebene
Verhältnismäßigkeitsprinzip muss dabei im Bereich der Strafverfolgung durch den Staat
besonders strikte Anwendung finden. Denn die Androhung, Verhängung und Vollziehung
von Strafen bringen als Sanktionen von besonderem Ernst den Vorwurf zum Ausdruck,
der Täter habe „elementare Werte des Gemeinschaftsleben verletzt" (vgl. BVerfGE 45,
187, 253). Aufgrund des daraus folgenden besonders intensiven Eingriffscharakters darf
das Strafrecht nur als letztes Mittel angewandt werden. Bei einer verfassungsmäßigen
Überprüfung strafrechtlicher Vorschriften kommt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
eine gesteigerte Bedeutung zu (vgl. BVerfGE 6, 289, 433 ff.; 39, l, 47; 88, 203, 258).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze erweisen sich die vorgelegten Vorschriften
nicht als verfassungsgemäß.

a. Rechtmäßigkeit des Eingriffs

Den zuvor ausgeführten Grundsätzen genügen die hier angegriffenen Vorschriften
des Betäubungsmittelgesetzes nicht, jedenfalls nicht mehr. So verfolgen die
angegriffenen Strafvorschriften schon keinen legitimen Zweck mehr. Dem
Gesetzgeber steht zwar hinsichtlich der Frage, welche Zwecke er für derart wichtig
hält, dass er ihre Erreichung mit den Mitteln des Strafrechts verfolgt, ein weiter
Beurteilungsspielraum zu. Jedoch ist ein Zweck jedenfalls dann nicht mehr mit
dem Grundgesetz in Einklang zu bringen,

- 18-

wenn offensichtlich ist, dass die hinter der Festlegung liegenden zielstehenden
Erwägungen objektiv nicht mehr als zutreffend bezeichnet werden können (vgl.
BVerfGE 13, 97, 107). In diesem Fall ist der Gesetzgeber von Verfassungswegen
gehalten, die entsprechenden Vorschriften zu überprüfen und den neuen Erkenntnissen
anzupassen. Seine ehemals bestehende Einschätzungsprärogative und der damit
verbundene Ermessensspielraum reduziert sich jedenfalls dann auf Null, wenn
wissenschaftlich nachgewiesen ist, dass von Cannabis lediglich geringe Gefahren
ausgehen und auch dies nur für wenige Menschen (vgl. auch Schwitter, Die
Vorverlagerung der Strafbarkeit beim unerlaubten Handeltreiben im
Betäubungsmittelstrafrecht , 1998, S. 78).

Ziele des Gesetzgebers waren bei Einführung der Straftatbestände
des Betäubungsmittelgesetzes der Schutz der Volksgesundheit, der Familie und
insbesondere der Jugend (vgl. BT - Drs. 665/10). Man ging davon aus, dass der Konsum
von Drogen - darunter auch Cannabisprodukten - die Gesundheit ihrer Verbraucher in
erheblichem Maße gefährde. Diesen Gefährdungen sollte mit einem umfassenden
Umgangsverbot und einer ebenso umfassenden Pönalisierung begegnet werden (vgl.
RegE zum BtmG BT-Drs. 8/3551 S. 23 f.). Schon zum Zeitpunkt der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1994 musste das Bundesverfassungsgericht
feststellen, dass sich die von Cannabisprodukten ausgehenden Gefahren aus damaliger
Sicht als wesentlich geringer darstellten, als der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes
angenommen hatte.

Allerdings ging der 2. Senat 1994 davon aus, dass auch nach dem damaligen
Erkenntnisstand nicht unbeträchtliche Gefahren und Risiken verblieben. Das
Bundesverfassungsgericht im Jahr 1994: „Jedoch ist auch die den Vorlagebeschlüssen
zu Grunde liegende Annahme mangelnder Gefährlichkeit von Cannabisprodukten
ungesichert" (vgl. BVerfGE 90, 145, 177). Zwar sei man sich - so die Begründung des
Bundesverfassungsgerichts seinerzeit - wohl letztlich darüber einig, dass
Cannabisprodukte' keine körperliche Abhängigkeit hervorrufen, dass sie entgegen
weitläufig nach wie vor verbreiteten Vorstellung auch keine Schrittmacherfunktion auf
härtere Drogen, insbesondere Heroin hätten, es verblieben jedoch nicht unbeträchtliche
Gefahren und Risiken, welche die Cannabispönalisierung rechtfertigten. So bestände
insbesondere noch die Möglichkeit einer psychischen Abhängigkeit von

- 19-

Cannabiskonsumenten bei hohem, langandauernden Missbrauch: auch könne der
Konsum zu Verhaltensstörungen, Letargie, Gleichgültigkeit, Angstgefühlen,
Realitätsverlust und Depressionen führen. Letztlich könnte durch den Cannabiskonsum
insbesondere die Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen nachhaltig gestört
werden. Auch könne das sogenannte amotivationale Syndrom, ein durch Apathie,
Passivität und Euphorie gekennzeichnetes Zustandsbild, durch Cannabis hervorgerufen
werden. Auf Grund der seinerzeit vom Senat eingeholten fachbehördlichen
Stellungnahmen des Bundesministers für Gesundheit sowie des Bundeskriminalamtes
verblieben - so das Bundesverfassungsgericht 1994 - nicht unbeträchtliche Gefahren
und Risiken, so dass die Gesamtkonzeption im Bezug auf Cannabisprodukte als
vcrfassungsgemäß einzustufen war (vgl. BVerfGE 90, 145, 181).

So hatte der Bundesminister für Gesundheit in dem damaligen Verfahren namens der
Bundesregierung und ausweislich der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom
09.03.1994 von einer erheblichen Gefahrdung des allgemeinen Freiheitsrechts dritter
Personen in Folge der Drogenwirkung durch Cannabis gesprochen. Darüber hinaus sei
das strafrechtliche Verbot der Abgabe von Cannabis geeignet und erforderlich, um die
Volksgesundheit und damit die körperliche Unversehrtheit des einzelnen Bürgers zu
schützen. Insoweit - so seinerzeit der Bundesminister für Gesundheit - sei die
Strafbarkeit des Umgangs mit Cannabis wohl ein notwendiges Mittel, um den Verkehr
mit dieser riskanten Droge zu unterbinden oder jedenfalls sobald als möglich zurückzudrängen
und dadurch vor allem junge Menschen vor gesundheitlichen Schäden zu
bewahren (vgl. hierzu BVerfGE 90, 145, 163 ff.)

Nach dem neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen lässt sich diese Feststellung heute
nicht mehr halten.

Unter Berücksichtigung der durchgeführten Beweisaufnahme, insbesondere der
Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. Kleiber, Prof. Dr. Peter Cohen und Prof.
Dr. Uchtenhagen, allgemein zugänglicher wissenschaftlicher Literatur, der behördlichen
Auskunft des Bundesministers für Gesundheit und nicht zuletzt der Gerichtskenntnis
von jugendlichen und heranwachsenden Cannabiskonsumenten, ist das Amtsgericht
Bernau der festen Überzeugung, dass dem Gesetzgeber ein legitimer Zweck zur
Pönalisierung des Rauschmittels Cannabis heute nicht mehr zur Seite steht.

- 2 0 -

So führte zunächst der Gutachter Prof. Kleiber (Prof. für Psychologie an der Freien
Universität Berlin und Leiter des Instituts für Prävention und psychosoziale
Gesundheitsforschung) aus, dass er zusammen mit anderen Experten im Auftrag des
Bundesministerium für Gesundheit im Jahre 1997 eine Expertise zu den
pharmakologischen und toxikologischen Wirkungen sowie den psychosozialen
Konsequenzen des Cannabiskonsums erstellt habe. Im Rahmen der Untersuchung habe
man insbesondere auch die bis zu diesem Zeitpunkt bekannte Forschungsliteratur
zusammengefasst und verglichen.

Zusammenfassend sei die Forschergruppe zu folgenden Ergebnissen gelangt: die
pharmakologischen Wirkungen und psychosozialen Konsequenzen des
Cannabiskonsums seien weniger dramatisch und gefährlich, als dies überwiegend in der
Vergangenheit noch angenommen worden sei. So sei die akute Toxizität von Cannabis
eher gering. Abgesehen von lapidaren Begleiterscheinungen, sei lediglich der
chronische Konsum der Droge nicht frei von Risiken, dies jedoch nur im Hinblick auf
psychosoziale Verhaltensweisen. Insbesondere führe der Konsum von Cannabis nicht zu
einer Verschlechterung der körperlichen Gesundheit. Zwar lasse sich zeigen, dass stärker
problembehaftete Personen, insbesondere Jugendliche, besonders häufig Cannabis
konsumierten, Belege für eine schädigende Substanzwirkung von Cannabis ließen sich
hingegen nicht aufführen. Auch führe die Droge keineswegs - wie landläufig
angenommen - zu einer psychischen Abhängigkeit. Sofern es jedoch zu einer
Abhängigkeitsentwicklung kommen könnte, ließe sich diese nicht primär aus der
pharmakologischen Wirkung der Droge, sondern vielmehr aus der vorab bestehender
psychischen Stimmung und Problemen der Konsumenten erklären. Insoweit dürfe die
Abhängigkeit von Cannabis lediglich als Symptom solcher Probleme gesehen werden.
Schließlich könne auch die These, Cannabiskonsum führe in einer gewissen
Regelmäßigkeit zu einem „amotivationalen Syndrom" nicht belegt werden. So hätten
Studien, in denen relativ unausgelesene Schüler- und Studentenstichproben untersucht
worden seien, ergeben, dass der größere Teil der Konsumenten weder geringere noch
schlechtere akademische Leistungen als Nichtkonsumenten aufwies.

Zusammenfassend führte der Sachverständige Prof. Dr. Kleiber aus, dass die mit dem
Cannabiskonsum verbundenen Risiken im Verhältnis zur Zahl der Konsumenten - die er

-21 -

und andere auf in der Bundesrepublik Deutschland bis zu 4 Millionen schätzten -
geringer sein, als bei jeder anderen Droge, letztlich sogar als bei einem übermäßigen
Verbrauch von Zucker, Schokolade oder infolge sonstiger gesundheitswidriger
Ernährung (vgl. zu den Schätzungen auch BVerfGE 90, 145, 178; vgL Körner, BtmG, 5.
Auflage, Anhang C l Rndr. 251). Die gesundheitlichen Risiken, die durch Aufnahme
von übermäßigen Mengen an Alkohol entständen, seien für die Volksgesundheit
wesentlich höher. Allein die Dosis sei entscheidend. Prof. Kleiber bestätigte schließlich
die in der Hauptverhandlung verlesene und vorgehaltene Zusammenfassung der
Expertise Kleiber / Kovar: „Auswirkungen des Cannabiskonsum" Seiten 238 bis 253
wie im folgenden auf den Seiten 21 bis 38 vollzitiert.

Zitat Beginn

„Zusammenfassung und Fazit"

Marihuana und Haschisch sind seit über 25 Jahren die am meisten konsumierten
illegalen Drogen in Deutschland. Etwa ebensolange ist Cannabis Gegenstand
vielfältiger Forschungsarbeiten, die Zahl der Veröffentlichungen ist inzwischen kaum
mehr zu überblicken. Gleichwohl ist die Frage nach dem Gefährdungspotential der
Droge auch heute noch umstritten. Cannabis ist nicht nur die am häufigsten
konsumierte, sondern wohl auch die am kontroversesten diskutierte illegale Droge der
letzten Jahrzehnte.

Die öffentliche Diskussion wurde Anfang der 90er Jahre mit einem Beschluss des
Landgerichts Lübecks, einen Cannabisfall an das Bundesverfassungsgericht
weiterzuleiten, und einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts erneut angestoßen. In
dieser Zeit wurden auch zwei neuere deutsche Gutachten verfasst, die sich mit
möglichen Wirkungen des Cannabiskonsums auseinandersetzten: ein von der
nordrheinwestfälischen Landesregierung in Auftrag gegebenes Gutachten des Bochumer
Instituts für Sozialmedizinische Forschung BOSOFO e. V. (Konegen, 1992)
und die "Expertise zur Liberalisierung des Umgangs mit illegalen Drogen" des
Münchner Instituts für Therapieforschung (Bühringer et al., 1993).

- 2 2 -

Ein Vergleich der gerichtlichen Stellungnahmen und der Expertisen zeigt, dass auch
noch in den 90er Jahren der Wissensstand zu Wirkungen und Konsequenzen des
Cannabiskonsums alles andere als eindeutig ist. Aus diesem Grund gab das
Bundesministerium für Gesundheit die vorliegende Expertise in Auftrag: Unter der
Leitung von Prof. Kovar wurden am pharmazeutischen Institut der Eberhard-Karls-
Universität Tübingen umfangreiche Basisdaten zur Botanik und Chemie der Inhaltsstoffe,
zur Pharmakokinetik und -dynamik aufgeführt sowie kurzfristige und langfristige
pharmakologische und toxikologische Wirkungen dargestellt. Psychische und soziale
Konsequenzen des Cannabiskonsums wurden unter der Leitung von Prof. Kleiber an der
Freien Universität Berlin (Institut für Prävention und psychosoziale
Gesundheitsforschung) zusammengetragen.

Botanik und Pharmakokinetik

Die Stammpflanze Cannabis sativa L. enthält über 420 Inhaltsstoffe, darunter sind etwa
60 verschiedene Cannabinoide, Hauptcannabinoide sind CBD, CBN und Delta9-THC,
wobei hauptsächlich Delta9-THC für die psychotropen Wirkungen verantwortlich ist.
Die wichtigsten Cannabispräparate sind Marihuana, Haschisch und Haschischöl, die
üblicherweise geraucht oder in Form von Gebäck eingenommen werden.
Die Resorption der Cannabinoide erfolgt im Lungengewebe, seltener über den
Gastrointestinaltrakt. Über die Lunge werden die Cannabinoide sehr schnell aufgenommen.
Nach oraler Applikation werden Cannabinoide nur langsam und mit
ausgeprägten interindividuellen Schwankungen resorbiert. Die Verteilung der
Cannabinoide in tiefere Kompartimente erfolgt äußerst rasch. Sie werden hauptsächlich
in fettreichen Geweben gespeichert. Ihre Ausscheidung geschieht überwiegend über die
Faeces, ca. 30% der Gesamtdosis wird über die Nieren ausgeschieden.
Nach dem Rauchen von Marihuana kommt es zu einem sehr schnellen Anstieg des
THC-Spiegels im Plasma, der nach Durchlaufen des Maximums nach ca. 3 bis 10
Minuten rasch wieder abfällt. Nach etwa einer Stunde ist die THC-Konzentration auf
ca. l ng/ml abgesunken. Die Plasmaspiegel sind nach oraler Applikation deutlich

- 2 3 -

niedriger und erreichen nach ein bis sechs Stunden ein plateauartiges Maximum.
Maximale psychische Effekte treten nach 35-40 Minuten (Rauchen) bzw. nach 2-3
Stunden (orale Einnahme) auf.

Die Elimination aus dem Plasma erfolgt durch Verteilung und Metabolisierung
zunächst sehr schnell. In einer zweiten Eliminationsphase werden die Cannabinoide
jedoch nur noch langsam ausgeschieden, da sie kontinuierlich aus ihren
Speichergeweben freigesetzt werden. Eine Eliminationshalbwertszeit ist für THC
derzeit nicht verbindlich anzugeben, sie liegt vermutlich in der Größenordnung von
ein bis vier Tagen,

Pharmakodynamik

Es sind zur Zeit zwei Subtypen des Cannabinoid-Rezeptors bekannt und in ihrer
Struktur aufgeklärt. Der zentrale CBl-Rezeptor kommt hauptsächlich im ZNS vor, aber
auch in peripheren Geweben, der CB2-Rezeptor hingegen ist ausschließlich außerhalb
des ZNS lokalisiert. Als erster endogener Ligand wurde das Arachidonsäure-Derivat
Anandamid identifiziert, weitere endogene Liganden sind inzwischen bekannt. Als
Folge einer CBl-Rezeptor-Aktivierung treten vielfältige Wechselwirkungen auf, wie
eine Hemmung der Acetycholin-Freisetzung und der präsynaptischen Glutamat-
Freisetzung im Hippocampus. In einer vermutlich nicht rezeptorvermittelten Reaktion
stimulieren Cannabinoide außerdem die Arachidonsäure-Freisetzung und erhöhen somit
die Prostaglandin-Konzentration. Der CBl -Rezeptor ist offensichtlich weitgehend für
die ZNS-vermittelten Cannabinoid-Wirkungen verantwortlich. Er spielt zudem eine
wichtige Rolle bei der Verarbeitung von Schmerzreizen, wobei komplexe
Wechselwirkungen mit Opioid-Rezeptoren auftreten. Der CB-2-Rezeptor hingegen
erfüllt Regelfunktionen im Immunsystem.

Ferner gehen Cannabinoide Wechselwirkungen mit dem Glucocorticoid-Rezeptor vom
Subtyp 11 im Hippocampus ein. THC besitzt hier sowohl agonistische als auch
antagonistische Eigenschaften. Wie andere Suchtstoffe auch stimuliert THC die
dopaminergen Bahnen des Reward-Systems im Gehirn. Weitere Wirkmechanismen
werden diskutiert. Cannabinoide lösen generell ausgesprochen komplexe und vielfältige

- 2 4 -

Reaktionen in biologischen Systemen aus, die mit dem derzeitigen Wissensstand auf
dem Gebiet der Rezeptorforschung noch nicht vollständig erklärt werden können.
Kurzfristige Wirkungen

Kurzfristige Cannabiswirkungen werden in der Literatur und auch in den jüngst
erschienenen Gutachten weniger kontrovers diskutiert. Auch die Auswertung der von
uns gesichteten Literatur bestätigt in diesem Punkt die Einschätzungen früherer Gutachten.
Die akute Toxizität von Cannabis ist sehr gering. Tödliche Überdosierungen sind bisher
nicht bekannt geworden. Akute körperliche Wirkungen sind Tachykardie und eine
leichte Blutdrucksteigerung, gefolgt von einer orthostatischen Hypotonie beim Aufstehen.
Diese Effekte zeigen eine ausgeprägte Toleranzwirkung, Cannabinoide vermindern die
Darmmotilität und zeigen eine antiemetische Wirkung (THC).

Niedrige Dosen rufen eine milde Sedation und Euphorie hervor, Personen im
Cannabisrausch erfahren eine subjektiv gesteigerte Gefühlsintensität in verschiedenen
Sinnesmodalitäten und ein verlangsamtes Zeitempfinden. Im Zusammenhang mit einer
intensivierten Geschmackswahrnehmung kommt es häufig zu einem gesteigerten Appetit.
Unter Cannabiseinfluss ist die Konzentrationsfähigkeit herabgesetzt, ebenso zeigen sich
Leistungseinbußen im Bereich Gedächtnis und Reaktionsfälligkeit.

Bei hoher Dosierung kann der Konsum von Cannabis zu Halluzinationen und zu
Depersonalisationserlebnissen führen. Ab einer Konzentration von 300 µg/kg
Körpergewicht (Rauchen) überwiegen dysphorische (v. a, Angst-) Zustände und
unangenehme Begleiterscheinungen wie Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Brennen im
Hals, Mundtrockenheit, Reizhusten und Gliederschwere. Die dysphorischen Zustände
können im Extremfall die Form akuter Panikreaktionen und leichter paranoider Zustände
annehmen. Diese Reaktionen finden sich vor allem bei relativ unerfahrenen,
unvorbereiteten Konsumenten.

-25-

Akute Intoxikatonspsychosen sind möglich. Für die Existenz einer eigenständigen
„Cannabispsychose" finden sich hingegen keine Belege. Das Auftreten von Flashbacks
(Echorausch) kann derzeit noch nicht befriedigend erklärt werden, doch sind sie nach
alleinigem Cannabiskonsum offensichtlich sehr selten.

Langfristige pharmakologisch-klinische Wirkungen

Langfristige Folgen des Cannabiskonsums werden im Vergleich mit den akut auftretenden
Wirkungen wesentlich kontroverser diskutiert. Folgende Ergebnisse wurden
zusammengetragen.

Nach langfristigem Cannabis-Rauchen ist eine Beeinträchtigung der
Bronchialfunktion möglich. Es kann zu Entzündungen, Obstruktion, Bronchitis und
zu präkanzerösen Veränderungen kommen. THC besitzt jedoch auch eine
bronchodilatorische Wirkung. Das Rauchen von Cannabis muß dennoch insgesamt als
ein Risikofaktor für die Entstehung von Krebserkrankungen des Aerogestivtraktes und
der Lunge angesehen werden. Insbesondere der häufige Beikonsum von Tabak führt
zu additiven Effekten. Das vorhandene Risiko nach alleinigem Cannabis-Rauchen
an Krebs zu erkranken, ist jedoch derzeit nicht eindeutig quanitifzierbar.
THC hat in vitro und in vivo immunsuppressive Eigenschaften, deren klinische
Relevanz derzeit noch unklar ist.

Cannabinoide üben in vielfältiger Weise Einfluss auf die Plasmaspiegel verschiedener
Hypophysen-Hormone aus. Akut wird die Freisetzung von GH, Prolactin, LH und FSH
vermindert. Nach chronischem Konsum treten hingegen oft gegenteilige oder (aufgrund
von Toleranz) gar keine Effekte auf. Bei Langzeitkonsumenten kann es potentiell zu
einer Beeinträchtigung der Spermatogenese bzw. zu einer Störung des
Menstruationszyklus kommen, diese Effekte sind jedoch reversibel. Es ist nicht sicher
auszuschließen daß bei jungen Heranwachsenden die veränderten Hormonspiegel zu
einer Verzögerung der Pubertät führen können. Die Datenlage auf diesem Gebiet ist
jedoch sehr uneinheitlich und eine abschließende Beurteilung daher nicht möglich.

-26-

Auch eine Beeinträchtigung des Fötuswachstums und der Entwicklung vom Neugeborenen
aufgrund eines Cannabiskonsums der Mutter während der Schwangerschaft ist nicht mit
letzter Sicherheit auszuschließen. Das Ausmaß und die klinische Bedeutung solcher
Beeinträchtigungen werden allerdings in der Literatur kontrovers
diskutiert.

Das Aufreten von physischen Gehirnschäden konnte nicht nachgewiesen werden,
frühere Befunde erwiesen sich als nicht reproduzierbar.

>
Für die Mehrzahl der pharmakologischen Effekte von Cannabis wird bei
langfristigem,
regelmäßigen Konsum hoher Dosen eine Toleranzentwicklung festgestellt, Physische
Entzugssymptome wie Zittern, innere Unruhe, erhöhte Körpertemperatur,
Gewichtsverlust und Schlafstörungen sind selten. Sie treten nur nach Entstehung
einer ausgeprägten Toleranz auf.

Langfristige psychische und sowie (soziale?) Konsequenzen

Über mögliche somatische Folgeschäden hinaus werden auch (negative)
Konsequenzen für die psychische und soziale Situation der Cannabiskonsumenten
diskutiert. Zur Abklärung der psychosozialen. Risiken des Cannabiskonsums wurde
Literatur zu folgenden Fragen ausgewertet:

- Beeinträchtigt der Konsum von Cannabis langfristig die allgemeine psychische Gesundheit
bzw. das Wohlbefinden der Konsumenten?

- Werden kognitive Grundfunktionen wie Gedächtnis und Aufmerksamkeit dauerhaft durch
den Konsum von Cannabis beeinträchtigt?

- Welche Rolle spielt Cannabis bei der Entstehung und dem Verlauf von
(schizophrenen) Psychosen?

- Wie groß ist das Abhängigkeitspotential der Substanz Cannabis?

- 2 7 -

- Dient Cannabis als Einstiegsdroge für den illegalen Drogenkonsum? Besteht die
Gefahr eines Umsteigeeffekts von Cannabis zu harten Drogen?

- Welche Auswirkungen hat Cannabis auf Motivation und Leistung der Konsumenten?
Ruft Cannabis ein amotivationales Syndrom und damit negative Konsequenzen für
die Ausbildungs- und Berufssituation der betroffenen Personen hervor? Ist mit
weiteren negativen sozialen Konsequenzen zu rechnen?

- In welchem Ausmaß beeinträchtigt Cannabis die Fahrtüchtigkeit?

Zu diesen Fragestellungen liegen zahlreiche, häufig widersprüchliche Studienergebnisse
vor. Ein Teil dieser Widersprüchlichkeiten ist auf unterschiedliche Studiendesigns
oder auch methodische Unzulänglichkeiten zurückzuführen. Zwar sind die komplexen
Zusammenhänge zwischen dem Konsum von Cannabis und seinen diskutierten
möglichen Konsequenzen grundsätzlich schwer untersuchbar, einzelne Studien
unterscheiden sich aber aufgrund ihres Designs durchaus erheblich in ihrer
Aussagekraft. Die vorhandene Literatur wurde deshalb unter Zuhilfenahme einer
methodischen Bewertung analysiert. Eine Berücksichtigung der methodischen Qualität
der Einzelstudien erschien uns geboten, da in der Vergangenheit Studien Ergebnisse
oftmals unzulässig interpretiert worden waren bzw. viele Ergebnisse aufgrund
methodischer Beschränkungen (z. B. der Untersuchung hoch selektierter und zudem oft
klinisch auffälliger Untersuchungsgruppen) schwer zu interpretieren sind.
Die Ergebnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

Cannabiskonsum und psychische Gesundheit

Einige Forschungsarbeiten fokussieren den Zusammenhang zwischen
Cannabiskonsum und möglichen gesundheitlichen Begleiterscheinungen, die nicht
durch die unmittelbare Drogenintoxikation bedingt werden, von denen aber
angenommen wird, dass sie (längerfristig betrachtet) doch mit dem Cannabiskonsum in
Zusammenhang stehen könnten: So befasste man sich mit Merkmalen wie
„psychischen Beschwerden", „emotionalen Problemen", „Lebenszufriedenheil" oder
„Selbstwertgefühl". Aufgrund

- 2 8 -

der vorliegenden Ergebnisse muss die allgemeine Annahme, dass der Konsum von
Cannabis eine Verschlechterung der psychischen Gesundheit nach sich zieht,
zurückgewiesen werden. Zwar lässt sich zeigen, dass stärker problembehaftete Personen
besonders häufig konsumieren, Belege für eine schädigende Substanzwirkung von
Cannabis lassen sich hingegen nicht finden. Wird Drogenkonsum jedoch allgemein
ohne eine Differenzierung nach Art und Kombination der konsumierten Drogen erfasst,
zeigen sich negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit.
Auf der anderen Seite gibt es auch Hinweise dafür, dass der Konsum von Cannabis
sogar positive Konsequenzen haben kann. Im Studienmaterial befinden sich zwei
Studien, in denen von einer verminderten Problembelastung bzw. von positiven
Veränderungen des Selbstwertgefühles im jungen Erwachsenenalter berichtet wird.

Beeinträchtigung kognitiver Grundfunktionen

Unter der akuten Drogeneinnahme kommt es zu Einschränkungen der kognitiven
Leistungsfähigkeit. Vor allem Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsleistungen sind,
eingeschränkt. Nachwirkungen dieser akuten Folgen, über deren klinisch-praktische
Relevanz in den Studien allerdings keine Aussagen getroffen werden, können noch
Stunden bis Tage, in seltenen Fällen sogar Wochen bestehen bleiben. Nach Absetzen
des Konsums verbessern sich die Leistungen jedoch wieder, und es ist nicht davon
auszugehen, dass der Cannabiskonsum bleibende kognitive Beeinträchtigungen nach
sich zieht.

Von großer Bedeutung scheint die Stärke und Frequenz des Cannabiskonsums zu sein:
die genannten Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsprobleme wurden in der Regel nur bei
sehr schweren Konsumformen (bei Personen, die über einen längeren Zeitraum
mehrmals täglich konsumierten) beobachtet; ein leichter bis mittlerer Konsum
(hierunter wurde in den entsprechenden Studien ein immerhin mehrmals wöchentlicher
Cannabisgebrauch verstanden) zieht hingegen keine länger anhaltenden kognitiven
Beeinträchtigungen nach sich.

Einfluss von Cannabiskonsum auf Entstehung und Verlauf von Psychosen

- 2 9 -

Die Forschungslage zum Zusammenhang zwischen Cannabis und längerfristigen
Psychosen ist uneindeutig. Während man früher von der Existenz einer eigenständigen
„Cannabis-Psychose" ausging, scheint sich inzwischen die Überzeugung durchzusetzen,
daß es sich bei den derartig diagnostizierten Psychosen um Schizophrenien handelt.
Cannabis scheint auf den Verlauf einer bereits bestehenden Schizophrenie Einfluss zu
nehmen. Es zeichnet sich die Tendenz ab. dass ein starker, mehrmals täglicher Konsum
eine Verstärkung produktiver Symptome wie Wahn und Halluzinationen bewirken
kann, weniger harte Konsumformen hingegen nicht. Für den Einfluss des
Cannabiskonsums auf die schizophrene Negativsymptomatik (Antriebs- und
Motivationsprobleme) kann die Aussage aufgrund zu weniger Studienergebnisse noch
weniger klar ausfallen. Es könnte vermutet werden, dass ein (geringer bis mäßiger)
Konsum zur Verbesserung der Symptomatik führt.

Nach wie vor umstritten ist auch die Frage, ob Cannabis ein unabhängiger Risikofaktor
für die Ausbildung einer Schizophrenie ist bzw. das Risiko psychotisch vorbelasteter
Personen, an Schizophrenie zu erkranken, erhöht. Die Ergebnisse einer als
aussagekräftiger -eingeschätzten Studie weisen in diese Richtung, eine abschließende
Beurteilung ist zur Zeit jedoch nicht möglich.

Abhängigkeit

Die von der Weltgesundheitsorganisation. (WHO) eingeführte Kategorie einer
Abhängigkeit „vom Typ Cannabis" wird durch eine mäßig starke psychische Abhängigkeit
definiert. Psychische Abhängigkeit wird mit einem starken psychischen
Bedürfnis nach periodischem oder dauerndem Genuss der Droge zur Erhöhung des
Wohlbefindens beschrieben.

Bezüglich des Abhängigkeitspotentials der Droge Cannabis fassen wir zusammen: Der
Konsum von Cannabis führt keineswegs zwangsläufig zu einer psychischen
Abhängigkeit, es kann jedoch, zu einer Abhängigkeitsentwicklung kommen. Eine
solche Abhängigkeit vom Cannabistyp kann jedoch nicht primär aus den
pharmakologischen Wirkungen der Droge erklärt werden, ohne vorab bestehende
psychische Stimmungen und Probleme zu berücksichtigen. Die Abhängigkeit von
Cannabis sollte als Symptom solcher Probleme gesehen werden.

- 3 0 -

Cannabis als Einstiegsdroge

Ein wichtiges Argument in der Diskussion um Cannabis ist seine mögliche
„Schrittmacherfunktion" für den Einstieg in illegale Drogen bzw. den Umstieg auf
härtere Substanzen. Diese These muss nach Analyse der vorliegenden Studien zurückgewiesen
werden. Es lässt sich zwar ein Zusammenhang zwischen
Cannabiskonsum und dem Konsum weiterer Drogen nachweisen: Opiatabhängige
Personen haben tatsächlich in der Regel zuvor Cannabis als erste illegale Droge konsumiert
(ebenso wie Cannabis konsumierende Personen in der Regel vorher legale
Drogen wie Alkohol und Tabak konsumiert haben). Hieraus ist aber nicht abzuleiten,
dass Cannabis zu dem Konsum härterer Drogen führt Sicher auszuschließen ist die
These, dass die Substanzwirkung selbst für ein späteres Umsteigen verantwortlich ist.
Eher ist anzunehmen, dass das Image der Substanz bei den Konsumenten bzw.
kulturelle Moden für die heutige Reihenfolge in der Drogeneinnahme verantwortlich
sind. Möglicherweise fördert auch die nach wie vor vorhandene Illegalität eine gewisse
Assoziation zu anderen illegalen Drogen, die Verbindung ist allerdings für die heutige
Zeit aufgrund der zunehmenden „Normalisierung" bzw. „Veralltäglichung" des
Konsums (zumindest bei jungen Menschen) in Frage zu stellen.

Entwicklung eines amotivationalen Syndroms

Die Frage, ob der Konsum von Cannabis ein amotivationales Syndrom hervorruft, das
durch Passivität, Interesse- und Motivationsverlust gekennzeichnet ist, nimmt in der
Diskussion um die Droge einen besonderen Stellenwert ein. Zur Beurteilung dieser
Frage griffen wir einerseits auf Studien zurück, die dieses Störungsbild direkt zu
operationalisieren versuchten, andererseits auch auf Untersuchungen, die aufgrund der
Erhebung von Teilaspekten oder sozialen Folgeerscheinungen des Syndroms ebenfalls
für diese Fragestellung von Bedeutung waren.

Die These, Cannabiskonsum führe mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu einem
amotivationalen Syndrom, kann anhand der analysierten Studien nicht belegt werden,
Studien, in denen relativ unausgelesene Schüler- und Studentenstichproben untersucht

-31 -

wurden, zeigen für den größten Teil der Konsumenten keine geringere
Leistungsmotivation oder schlechtere akademische Leistungen als Nichtkonsumenten.
Die Studien, die die deutlichsten Hinweise für die Existenz eines durch Cannabis
bedingten amotivationalen Syndroms zu erbringen scheinen, sind aufgrund
methodischer Unzulänglichkeiten nicht in der Lage, konfundierende Effekte (z. B. eine
depressive Symptomatik oder auch alternative Werte und Lebensstile seit Ende der 60er
Jahre) von den Effekten des Cannabiskonsums zu trennen. In Studien, die den Einfluss
solcher möglicherweise konfundierenden Effekte hingegen kontrolliert haben, erscheint
der Cannabiskonsurn nicht als eigenständiger Risikofaktor für

Demotivationserscheinungen.

Neben Aspekten der schulischen und beruflichen Leistung und Integration wurden als
weitere mögliche soziale Folgen auch Besonderheiten in bezug auf Partnerschaft und
Familie untersucht. Der Cannabiskonsum erhöht nicht das Risiko einer frühzeitigen
Schwangerschaft, scheint aber eher mit einer verzögerten Übernahme von
Erwachsenenrollen in Verbindung zu bringen sein.

Fahrtüchtigkeit

Leistungseinbußen im Bereich Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Reaktionsvermögen,
wie sie im akuten Cannabisrausch auftreten, beeinträchtigen unbestritten die Fahr- und
Flugtüchtigkeit. Umstritten ist hingegen die Frage nach der Stärke bzw. zeitlichen
Länge dieser Beeinträchtigungen. Mit Schmidt, Scheer und Bergbaus (1995), auf deren
aktuelle und umfassende Literaturauswertung wir uns für diese Fragestellung stützen,
lässt sich festhalten: Cannabis beeinträchtigt akut -abhängig von der Dosis, von der Art
der erforderlichen Leistung und vom Gebrauchsmuster die Fahr- bzw. Flugtauglichkeit.
Signifikante Leistungseinbußen sind vor allem in der ersten Stunde nach
Cannabiskonsum beobachtet worden, in Einzelfällen jedoch (in den sehr sensiblen
Flugsimulatorstudien) auch noch nach 24 Stunden. Die Cannabiswirkung der ersten
Stunde beeinträchtigt vor allem komplexe, kontrollierte Leistungen (z. B. das
Reaktionsverhalten in unvorhergesehenen Situationen), die ab der zweiten Stunde nach
Rauschbeginn vollständig ausgeglichen werden können. Automatisierte Leistungen
werden länger herabgesetzt und können nicht ausgeglichen werden.

- 3 2 -

Das subjektive Rauscherleben ist häufiger zu beobachten als tatsächliche Leistungseinbußen,
auch hält es länger an als die objektiven Beeinträchtigungen.

Medizinische Anwendungsgebiete

Neben der Untersuchung möglicher schädlicher Cannabiswirkungen ist in den letzten
Jahren ein verstärktes Bemühen zur Erforschung therapeutischer Anwendungsmöglichkeiten
des - schon im Altertum als Heilmittel verwendeten -Cannabis
bzw. seiner Inhaltsstoffs festzustellen. Die antiemetische Wirkung von THC, Nabilone
und Levonantradol sind gut belegt. Einige weitere synthetische Cannabinoide befinden
sich in der Testphase. Cannabinoide werden bei der Therapie von Zytostatikainduziertem
Erbrechen von Krebspatienten eingesetzt. In den USA ist THC als
Fertigarzneimittel für diese Indikation zugelassen. Ein Vergleich der Wirksamkeit von
Cannabinoiden und den modernen, neuentwickelten Therapieansätzen (5-HT3-
Antagonisten, Metoclopramid, Kombinationen etc.) steht noch aus; allerdings können
Cannabinoide bei therapieresistentem Erbrechen durchaus eine sinnvolle
Behandlungsalternative darstellen.

Die appetitanregende Wirkung von Cannabinoiden ist sehr variabel und von zahlreichen
Faktoren abhängig. Ein versuchsweiser Einsatz bei schlechtem Allgemeinzustand
von AIDS- und Krebspatienten ist jedoch zu befürworten, wenn damit
zumindest der körperliche Verfall abzubremsen ist.

THC und zahlreiche andere Cannabinoide senken signifikant den Augeninnendruck und
könnten somit in der Therapie des Glaukoms eingesetzt werden. Sinnvoll ist hier
ausschließlich eine topische Applikation, wobei entsprechende Zubereitungen zur
Anwendung am Auge bisher nicht entwickelt und am Menschen getestet wurden.
Die bronchodilatatorische Wirkung von THC ist gut belegt. Einsatzmöglichkeiten in
der Asthmatherapie sind bisher nur wenig erprobt worden, da in Einzelfällen
ausgeprägte Bronchokonstriktionen ungeklärter Ursache auftraten. Eine Trennung der
bronehodilatatorischen Wirkung von den zentralen Nebenwirkungen scheint möglich
zu

- 3 3 -

sein. Erfolgversprechend ist die Applikation in Form von Aerosolen, jedoch besteht auf
diesem Gebiet noch Forschungsbedarf, bevor eine endgültige Beurteilung
vorgenommen werden kann.

Als Antiepileptikum ist offensichtlich CBD das am besten geeignete Cannabinoid. Über
die Wirksamkeit beim Menschen ist derzeit nur wenig bekannt und eine abschließende
Beurteilung eines sinnvollen Einsatzes ist noch nicht möglich.

Die Anwendung von THC als Muskelrelaxans bei spastischen Symptomen ist bisher nur
in Einzelfällen untersucht worden, wobei die Ergebnisse recht erfolgversprechend sind
und zumindest eine weitergehende Untersuchung rechtfertigen würden.
Der Einsatz von Cannabinoiden als Analgetika konnte sich hingegen in der Praxis nicht
bewähren, da die Opioid-Analgetika den Cannabinoiden in der Nutzen-Risiko-
Abwägung überlegen sind. Auf diesem Gebiet liegt jedoch noch ein großes
Entwicklungspotential von selektiven, synthetischen Cannabinoiden, da man nach
Entdeckung der Cannabinoid-Rezeptoren die Wirkmechanismen besser versteht und
hier nun gezielter eingreifen kann.

Generell ist bei der therapeutischen Verwendung von Cannabinoiden das Augenmerk
auf die galenische Zubereitungsform und Applikationsart zu richten, da die Substanzen
aufgrund ihrer ausgeprägten Lipophilie und der pharmakokinetischen Charakteristik
nicht einfach zu handhaben sind. Die Wahl einer falschen Galenik, die keine
ausreichende Resorption ermöglicht, kann zu völligem Therapieversagen führen. Auf
diesem Gebiet sind mit Sicherheit noch nicht alle Entwicklungsmöglichkeiten
ausgeschöpft worden.

Das Rauchen von Cannabis-Zubereitungen (Marihuana etc.) ist aufgrund der Nebenwirkungen
und potentieller Krebsrisiken abzulehnen. Der Verabreichung von Mono-
Präparäten (z. B. THC) zur oralen, inhalativen (als Aerosol) oder topischen Applikation
ist der Vorzug zu geben.

- 3 4 -

Ein großer Aufschwung in der Erforschung therapeutischer Einsatzmöglichkeiten von
Cannabinoiden geht von der derzeitigen Entwicklung spezifischer Rezeptor-Agonisten
und -Antagonisten aus, die es ermöglichen, bei verbesserter Wirkung die
Nebenwirkungen deutlich zu reduzieren. Insbesondere die Trennung der erwünschten
Wirkungen von zentralen Effekten ist bereits mit einigen Substanzen gelungen. Dies
wird auch in zunehmendem Maße von der Pharmaindustrie (USA Frankreich) erkannt,
eine entsprechend rege Forschungstätigkeit hat in den letzten Jahren bereits eingesetzt.
Forschungsbedarf

Aus pharmakologischer Sicht ist vor allem die weitere Erforschung des Cannabinoid-
Rezeptor-Systems ein vielversprechender Forschungsbereich. Bislang wurden zwei
Subtypen (CB1 und CB2) des Cannabinoid-Rezeptors entdeckt. Es ist sehr
wahrscheinlich, dass weitere Subtypen existieren. Die Suche nach weiteren Subtypen ist
für das Verständnis des Cannabinoid-Rezeptor-Systems von großer Bedeutung, In
diesem Zusammenhang besteht Bedarf an der Synthese von spezifischen Agonisten
und Antagonisten, um die beiden Rezeptor-Typen besser charakterisieren zu können.
Mit Hilfe solcher spezifischen Liganden könnten die pharmakologischen Effekte des
zentralen und des peripheren Cannabinoid-Rezeptors erst genauer untersucht werden.
Im Gegensatz zum CBl-Rezeptor ist beim CB2-Rezeptor noch sehr wenig über die
Signalübertragungswege bekannt. Das Verständnis der molekularen Effekte ist eine
Voraussetzung, um die Funktion des peripheren Rezeptors im Immunsystem verstehen
zu können.

Wenig ist bisher über die Rolle des endogenen Liganden Anandamid bekannt, der zu
beiden Rezeptor-Subtypen Affinität zeigt. Vermutlich werden in naher Zukunft noch
eine Reihe weiterer endogener Liganden entdeckt werden, mit deren Hilfe die
Bedeutung des Rezeptor-Systems im Körper besser verstanden werden kann.
Mit Hilfe der PET-Techmk und radioaktiv markierten Substanzen ist erstmals die
Erforschung der Rezeptorverteilung in vivo beim Menschen möglich. In der
Suchtforschung kommt dieser hochmodernen Technik eine wachsende Bedeutung zu,

- 3 5 -

wobei bisher keine Arbeiten mit markierten Cannabinoiden durchgeführt wurden.
Die Erkenntnisse aus der Rezeptorforschung eröffnen erstmals die aussichtsreiche
Möglichkeit, neue Arzneistoffe zu entwickeln, die spezifisch an einem bestimmten
Rezeptor-Subtyp angreifen. Durch die Entwicklung gezielter Agonisten und
Antagonisten könnte somit eine pharmakologische Spezifität bei fehlender
halluzinogener Wirkung erreicht werden. Erste Forschungsansätze auf diesem Gebiet,
die recht vielversprechend sind, gibt es bereits. Betrachtet man die vielseitigen
pharmakologischen Wirkungen der Cannabinoide, so liegt hier ein großes Potential an
neuen Arzneistoffen. Das zunehmende Interesse der pharmazeutischen Industrie,
insbesondere in den USA und in Frankreich, ist ein Indiz für die wachsende Bedeutung
dieses Forschungszweiges.

Auf dem Gebiet der Pharmakokmetik der Cannabinoide sind die meisten Daten bereits
bekannt. Es wäre jedoch sinnvoll, einen Teil der kinetischen Parameter mit dem
heutigen Stand der modernen Analytik neu zu bestimmen. Insbesondere für die
Eliminationshalbwertszeit von THC liegen derzeit keine eindeutig bestimmten Werte
vor, ebenso zur Kinetik nach Mehrfachdosierungen. Diese Informationen sind wichtig,
um bei therapeutischen Anwendungen ein optimales Dosierungsschema entwickeln zu
können. Werden hier nicht ausreichende Plasmaspiegel über einen längeren Zeitraum
erzielt, so kommt es zu unnötigem Therapieversagen. In diesem Zusammenhang ist es
wichtig, dass auch neue, potentiell therapeutisch einsetzbare, synthetische Cannabinoide
frühzeitig bezüglich ihrer Pharmakokinetik untersucht werden.

Entwicklungsmöglichkeiten bestehen ebenfalls noch auf Seiten der Galenik, um eine
optimale Freisetzung und Resorption der Cannabinoide bzw. von THC aus den
jeweiligen Zubereitungsformen zu ermöglichen. Interessante Ansätze sind mit der
Erprobung von diversen rektalen und topischen Zubereitungsformen bereits erkennbar.
Die pharmakologischen Eigenschaften von Cannabis und seinen Inhaltsstoffen sind in
den letzten Jahrzehnten intensiv erforscht worden. Trotz der vorhandenen großen
Datenmenge sind viele Sachverhalte nicht eindeutig und widerspruchsfrei geklärt. Die
Erkenntnisse aus der Rezeptorforschung werden mit Sicherheit in absehbarer Zukunft
viele pharmakologische Aspekte in einem neuen Licht erscheinen lassen. Hier wäre

-36-

beispielsweise an die verwirrenden Auswirkungen auf das Hormonsystem oder an die
Beeinträchtigung von Gedächtnisleistungen zu denken. Mit den verbesserten Kenntnissen
ist dann ein optimiertes Studiendesign möglich, das zu eindeutigeren
Ergebnissen führt.

Ein weiteres wichtiges Gebiet ist die Durchführung von klinischen Studien mit neuen
Cannabinoiden bzw. Rezeptorliganden. Pharmakologische Untersuchungen, wie sie
früher in größeren Rahmen mit THC durchgeführt wurden, müssten mit neu
entwickelten Cannabinoiden wiederholt werden. Einige dieser Substanzen sind
bereits gut in vitro und im Tierversuch erprobt, ihre mögliche therapeutische
Relevanz läßt sich aber letztlich nur in klinischen Versuchen ermitteln.

Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ergeben sich - bezogen auf die psychischen und
sozialen Auswirkungen des Cannabiskonsums - eine Reibe von Anschlussfragen,
die weiterer Forschung bedürfen:

Angesichts der Tatssache, daß einige Phänomene, die oftmals als Wirkungen des
(Langzeit-) Konsums von Cannabis interpretiert wurden, sich häufig als
vorausgehende Bedingungen eines chronischen Cannabiskonsums entpuppen, wären
stärker als bisher die entwicklungspsychologischen, sozialisatorischen und
gesellschaftlichen Faktoren zu untersuchen, die (problematischen) Substanzkonsum
erst wahrscheinlich machen. Diagnostizierte Probleme von Drogenkonsumenten
werden gegenwärtig oftmals als Substanzwirkungen. und -folgen interpretiert,
obgleich sie zumindest in Ansätzen bereits vor dem Substanzkonsum bestanden.
Psychosoziale Probleme von Konsumenten lediglich als Substanzwirkungen bzw. -
folgen zu interpretieren, verengt aber die theoretische Perspektive auf die Anwendung
eines Noxenmodelles, produziert einen Opferstatus und hat für Konsumenten und die
Gesellschaft gleichermaßen verantwortungsentlastende Funktion. Die
attributionstheoretisch fassbaren labelingtheoretisch aufzeigbaren und
sozialpsychologisch analysierbaren Mechanismen, denen der Drogendiskurs
unterliegt, sollten genauer untersucht werden.

Zudem sollte Substanzkonsum - starker als bisher - als Copingstrategie und mithin als
Versuch der Bewältigung von persönlichen Krisen verstanden und erforscht werden.

-37-

Dadurch würden erst mögliche adaptive Funktionen des Substanzkonsums sichtbar, die
bisher noch weitgehend unerforscht sind.

Eine wichtige Zielgruppe für solche Forschungsansätze könnten Langzeitkonsumenten
sein Wer sind sie? Was machen sie beruflich? Welche subjektiven Theorien haben sie
bezüglich der Rolle von Cannabis in ihrer Biographie? Welche Folgen des
Langzeitkonsums oder Beschwerden werden sichtbar?

Viele Phänomene, die z. B. der Wirkung konkreter Substanzen, wie Cannabis zugeschrieben
werden, müssten faktisch als Ergebnis polyvalenten Substanzkonsums
interpretiert werden, da die Mehrzahl der klinisch oder sozial auffälligen Konsumenten
polyvalenten Substanzkonsum aufweist. In den meisten Forschungsvorhaben wurde
aber der (Bei-)konsum legaler und illegaler Substanzen leider in der Regel nicht
kontrolliert. Ursachen und Folgen polyvalenten Substanzkonsums sollten daher genauer
als bisher untersucht werden.

Bedarf besteht vor allem auch an Forschungen, die „Politikentscheidungen" selbst zum
Gegenstand machen. Haben politische Entscheidungen, die auf die Veränderung der
Verfügbarkeit von Substanzen abzielen, überhaupt einen die Inzidenz und Prävalenz
des Substanzkonsums beeinflussenden Effekt - und wenn, welchen Effekt haben sie
unter welchen Bedingungen? Bisherige Analysen deuten eher auf eine generelle
Überschätzung des Einflusses von gesetzlichen Rahmenbedingungen und auf eine
generelle Unterschätzung des Steilenwertes des 'cultural support Systems', in dem das
Image, die subjektive Verfügbarkeit und der funktionale Nutzen des Substanzkonsums
festgelegt werden.

Zusammenfassend stellen wir fest, dass Wirkungen und Konsequenzen des
Cannabiskonsums nicht die Gefährlichkeit und Dramatik besitzen, wie dies noch
überwiegend angenommen wird Der Konsum der Droge ist dennoch nicht frei von
Risiken: In bezug auf körperliche Risiken sind vor allem die Beeinträchtigung der
Bronchialfunktionen und die kanzerogenen Effekte des Rauchens von

Cannabisprodukten, vor allein in Kombination mit starkem Nikotinrauchen, zu nennen.
Hormonelle Beeinträchtigungen oder auch eine Beeinträchtigung der pränatalen
Entwicklung sind nicht einheitlich belegt, dennoch sollte insbesondere in der

-38-

Schwangerschaft auf einen Konsum von Cannabis (wie auch auf den Konsum anderer
Drogen) verzichtet werden. Desgleichen ist bei jungen Jugendlichen entsprechende
Vorsicht indiziert.

Für den Bereich psychischer und sozialer Konsequenzen muss vor allem auf die zwar
reversiblen, aber doch Stunden anhaltenden kognitiven und psychomotorischen
Beeinträchtigungen hingewiesen werden, die das Fahrvermögen und sicher auch die
Leistungsfähigkeit in Schule und Beruf einschränken. Aus diesem Grund sollte
sicherheitshalber bis zu 24 Stunden nach Cannabiskonsum kein Kraftfahrzeug geführt
werden. Auch sollte klar sein, daß ein hochfrequenter, stark dosierter Konsum mit der
Bewältigung schulischer und beruflicher Anforderungen kaum zu vereinen ist. Weitere in
der Diskussion um Cannabis aufgeführten Thesen zu möglichen Gefahren der Droge
lassen sich hingegen nach der Analyse der vorliegenden Forschungsliteratur nicht
bestätigen."

- Zitat Ende -

Der zu den Risiken gleichfalls gehörte Gutachter Prof. Dr. Peter Cohen erläuterte dem
Gericht, dass die Risiken des Cannabiskonsums jahrelang ohne wissenschaftliche
Fundierung erheblich überschätzt worden seien. So sei es heute wissenschaftlicher
Stand, dass Cannabis das Betäubungsmittel sei, von welchem die geringsten Risiken
ausgingen. Es sei wissenschaftlich belegt, dass die Gefahren von Cannabis äußerst
gering seien. Lediglich bei dauermäßigem und übermäßigem Konsum könne es zu
Problemen bei den Konsumenten führen, wobei die Gruppe der Dauerkonsumenten mit
Problemen in der Zahl sehr gering sei. Deren Probleme seien allerdings nicht auf das
Betäubungsmittel Cannabis an sich, sondern vielmehr auf bereits vorhandene Probleme bei
den jeweiligen Menschen zurückzuführen.

Auch dem Gutachter Prof. Dr. Peter Cohen wurden in der Hauptverhandlung die
Zusammenfassung aus der Expertise Kleiber/Kovan, wie auf den Seiten 2 1 - 3 8
voll zitiert, vorgehalten. Prof. Dr. Cohen führte insoweit aus, dass er die dort
festgestellten Ergebnisse uneingeschränkt auch auf Grund eigener jahrelanger
Studien als richtig ansehe.

- 3 9 -

Der Gutachter Prof. Dr. Uchtenhagen führte schließlich zur Frage des Gerichts nach der
Gefährlichkeit des Betäubungsmittel Cannabis aus, dass er letztlich nur noch geringe
Gefahren sähe. Auch er könne im Einklang mit der überwiegenden Wissenschaft das
Gefahrenpotenzial als äußerst gering einschätzen. So ist die von ihm geleitete
Kommission zur Vorbereitung der angedachten Reform des schweizerischen
Betäubungsmittelgesetzes im Jahr 2000 zu der Überzeugung gelangt, dass von dem
Wirkstoff Cannabis nur ganz geringe Risiken ausgingen. Insoweit könne er die ihm
gleichfalls vorgehaltene Zusammenfassung der Expertise Kleiber / Kovar voll
umfänglich im Ergebnis teilen. Es verblieben lediglich geringe Risiken im Bereich von
Langzeitkonsumenten. Diese seien entsprechend der Ausführungen der Sachverständigen
Prof. Dr. Kleiber und Prof. Dr. Cohen allerdings nicht in dem Wirkstoffgehalt selber zu
suchen, sondern seien bedingt durch langjährig angewachsene persönliche Probleme
bei den jeweiligen Konsumenten.

Alle Gutachter erklärten auf Nachfrage des Gerichts, dass ihnen ein Todesfall, der
auf Cannabiskonsum beruhe, nicht bekannt sei.

Das Bundesministerium für Gesundheit führte im Rahmen der behördlichen Auskunft
schließlich aus, dass zur Frage der gesundheitlichen Gefahrdung durch Cannabis
festzustellen sei, dass entsprechende Untersuchungen unter dem Umstand litten, dass
zunehmend mehr legale und illegale Substanzen in Kombination konsumiert würden
und daher einzelne Kausalitäten schwer feststellbar seien. Zu einer möglichen
Reihenfolge der Risiken einzelner Suchtstoffe verwies das Bundesministerium für
Gesundheit auf eine Expertise, wonach beispielsweise Alkohol und Ecstacy
wesentlich gefährlicher seien. Das Bundesministerium für Gesundheit erklärte weiter,
dass dem Betäubungsmittel Cannabis auf Grund aller erlangten Studien
noch keine „Unbedenklichkeitsbescheinigung" ausgestellt werden könne. Zwar seien
die Risiken akuter und langfristiger Beeinträchtigungen durch nicht medizinischen
Cannabiskonsum normalerweise gering. Bei einem chronischen Dauerkonsum sei der
Gebrauch des Betäubungsmittels Cannabis allerdings mit größerem Risiken, bis zur
psychischen Abhängigkeit, verbunden. Angesichts der vielen Unbekannten könne zur
Zeit noch kein unbegrenztes Freigabesignal gesetzt werden. Insgesamt ist der
behördlichen Auskunft des Bundesministerium für Gesundheit jedoch zu entnehmen,
dass dieses heute nicht mehr wie noch im Rahmen des Verfahrens vor dem

- 4 0 -

Bundesverfassungsgericht im Jahre 1994 von einer erheblichen Gefährdung des
allgemeinen Freiheitsrechts dritter Personen in Folge der Drogenwirkung durch
Cannabis sowie von einer riskanten Droge spricht. Trotz ausdrücklicher Nachfrage des
Amtsgerichts Bernau, ob heute noch von einer „riskanten Droge" gesprochen werden
könne, erfolgte eine diesbezügliche Einschätzung nicht. Insoweit konnte das Gericht zur
sicheren Überzeugung feststellen, dass auch das Bundesgesundheitsministerium das
Rauschmittel Cannabis als lange nicht mehr so gefährlich ansieht, wie noch seinerzeit
im Jahre 1994 (vgl. Schreiben des Bundesministerium für Gesundheit vom L März
2002 Blatt 72 bis 74 der Akte).

Das vorlegende Gericht muss nach den Ergebnissen der soeben dargestellten
Beweisaufnahme davon ausgehen, dass nach neuestem Stand der Wissenschaft keine
entscheidende Gefahren von Cannabiskonsum ausgehen, die es rechtfertigen könnten,
diesen mit den Mitteln des Strafrechts zu begegnen. Insbesondere sieht das Gericht
keinen Anlass, die Ausführung der gehörten Sachverständigen in Zweifel zu ziehen. Es
handelt sich bei diesen um international anerkannter Wissenschaftler auf dem Gebiet der
Cannabisforschung. Sie sind bereits seit Jahren mit den gesundheitlichen und den
gesellschaftlichen Folgen des Cannabiskonsums befasst. Prof. Dr. Kleiber leitet das
Institut für Prävention und psychosoziale Gesundheitsforschung der Freien Universität
Berlin und wurde aufgrund seiner Arbeit immer wieder in staatliche deutsche
Forschungsvorhaben eingebunden, so zuletzt hinsichtlich der durch das
Bundesministerium für Gesundheit in Auftrag gegebene Studie - Auswirkungen des
Cannabiskonsums -. Prof. Dr. Peter Cohen ist seit über 20 Jahren in der Niederlande
anerkannter Gutachter im Bereich der Cannabisforschung. Er ist heute Leiter des SCO
Konstamm Institut in Amsterdam - Centrum voor Drugsonderzoek Cedro und hat
ebenfalls an einer Vielzahl von Forschungsvorhaben, zum größten Teil finanziert von
der niederländischen Regierung teilgenommen. Prof. Dr. Uchtenhagen schließlich
wurde aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen auf dem Gebiet der Drogenforschung
von der Schweizer Regierung zum Leiter der Kommission berufen, die im Jahre 2000
die Reform des schweizerischen Betäubungsmittelstrafrechts vorbereitete. Alle vom
Gericht gehörten Gutachter genießen sowohl national als international einen
hervorragenden Ruf. Man kann sie letztlich als die jeweiligen „Päpste" ihrer Länder im
Bereich der Cannabisforschung betrachten. Von all diesen Experten wurden die in der
Ilauptverhandlung verlesenen Ergebnisse der Studie Kleiber/ Kovar bestätigt. Auch das

-41 - .

vorlegende Gericht hat nach intensiver Befassung mit den Untersuchungsmethoden
keinen Anlass, an den Ergebnissen zu zweifeln. So wurden zur Feststellung der
biologischen, chemischen und pharmadynamischen Wirkungsweise von Cannabis
umfangreiche Datensammlungen und Untersuchungen an der Universität Tübingen
unter Leitung von Prof. Kovar durchgeführt. Die Frage der langfristigen körperlichen,
psychischen und sozialen Konsequenzen wurde unter Leitung von Prof. Kleiber
insbesondere durch Heranziehen und Auswertung zahlreicher weiterer Studien aus der
Vergangenheit unter kritischer Würdigung ihrer Methodik erforscht. Damit gelang es
erstmals, eine Vielzahl von Forschungsergebnissen auszuwerten und die Ursachen
möglicher Widersprüche aufzudecken. So sieht auch das Bundesministerium für
Gesundheit offensichtlich keinen Anlass an den Ergebnissen dieser Studie zu zweifeln,
wie das Schreiben an das Gericht in diesem Verfahren zeigt. Damit bestätigt und
bekräftigt das Ergebnis der Beweisaufnahme letztlich auch die Feststellung des
Landgerichts Lübeck in seinem Vorlagebeschluss vom 19.12.1991 (NJW 1992, 1571,
1572).

Bereits damals führte das Landgericht Lübeck wie folgt aus:

„Das schweizerische Bundesgericht hat in seiner Entscheidung vom 29.08.1991
(Strafverteidiger 1992, 18, (19)) hierzu folgendes festgestellt: Nach dem gegenwärtigen
Stand der Erkenntnisse lässt sich somit nicht sagen, dass Cannabis geeignet sei, die
körperlich und seelische Gesundheit vieler Menschen in eine naheliegende oder
ernstliche Gefahr zu bringen. Der Sachverständige Prof. Dr. Dee hat erklärt, dass
Cannabis nach seiner Erkenntnis das Rauschmittel mit den geringsten individuellen
gesamtgesellschaftlichen Wirkungen sei, dass es zur Zeit auf der Welt gebe. Binder hat
in seinem Aufsatz im deutschen Ärzteblatt (1981, 124) ausgeführt: „Medizinisch
gesehen, dürfte der Genuss ein bis zwei Joints Marihuana (l bis 2 g Marihuana,
resorbierte THC-Menge 8 bis 16 mg) pro Tag unschädlich sein, zu mindestens aber
weniger schädlich sein, als der tägliche Konsum von Alkohol oder von 20 Zigaretten.
Für alle drei Drogen gilt das Prinzip, „sola dosis facit venenum" und somit wäre gegen
den gelegentlichen Konsum von Marihuana im Grunde genauso wenig einzuwenden wie
gegen das gelegentliche Glas Wein oder gelegentliche Zigarette. Jede Droge, im
Übermaß genossen, ist schädlich."

- 4 2 -

Auch der im März 2001 eingereichte Gesetzesentwurf der Schweizer Regierung, der
eine Freigabe des Cannabiskonsums zum Inhalt hat, wird insbesondere damit
begründet, dass die gesundheitlichen Risiken bei moderaten Cannabiskonsum nicht
größer als bei anderen legal erhältlichen Substanzen seien (vgl. Bl. 99 der Akte).
Unter Berücksichtigung der gehörten Gutachter und in Würdigung der behördlichen
Auskunft des Bundesministeriums für Gesundheit kann das Amtsgericht keine Gefahren
mehr erkennen, die vom Konsum von Cannabisprodukten ausgehen die es rechtfertigen
könnten, diesen mit den Mitteln des Strafrechts zu begegnen. Wenn man darüber hinaus
noch sieht, dass ein Staat wie die Bundesrepublik Deutschland einerseits
allgemeinkundig jährlich ca. 40.000 Alkoholtote zu verzeichnen hat und
hunderttausende Menschen aufgrund von Alkoholgenuss geschlagen und verprügelt
werden, andererseits der Staat hier nicht mit den Mitteln des Strafrechts eingreift, so
darf er dies erst recht nicht beim Betäubungsmittel Cannabis.

Im Ergebnis bleibt festzustellen, dass die seinerzeit bei Begründung der
Cannabiskriminalisierung zielstehenden Erwägungen heute objektiv nicht mehr als
zutreffend bezeichnet werden können. Dem Gesetzgeber steht damit kein legitimer
Zweck im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips zur Seite, der den durch die
Strafbarkeit erfolgenden Eingriff in Art. 2 Abs. l GG rechtfertigen könnte. Wenn wie
vorliegend kaum noch Zweifel dahin gehend bestehen, dass von einem letztlich
einzubindenen Rauschmittel nur ganz geringen Gefahren ausgehen, wobei auch diese
bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht einmal wissenschaftlich deutlich belegt
sind, dürfte schließlich die Beweislast für die Gefährlichkeit beim Gesetzgeber liegen.
Dieser dürfte verpflichtet sein, tatsächlich vorhandene Risiken darzulegen (vgl. Siebel a.
a. o. S. 201; Schneider Betrifft Justiz, 2001, 37, 45). Die Strafrechtsgebung darf unter
Berücksichtigung einer modernen Verfassung nicht den Selbstzweck der Gesetzgebung
geopfert werden; dies zumal es sich bei dem Wirkstoff Cannabis mittlerweile um die
besterforschteste psychotrope Substanz handelt (vgl. auch Körner a. a. O.,
Betäubungsmittelgesetz Anhang C. l Rdnr. 275; BVerfGE 90, 145, 221, Sondervotum
Sommer).

b.Geeignetheit

- 4 3 -

Aber selbst wenn unterstellt würde, dass der Gesetzgeber mit der Strafandrohung gegen
den Umgang von Cannabisprodukten noch einen legitimen Zweck verfolgte, so ist
dieses Mittel jedenfalls nicht geeignet, den angestrebten Zweck, insbesondere die
Jugend vor Suchtgefahren zu schützen, zu erreichen.

Ziel der Cannabispönalisierung ist letztlich den Umgang mit dem Betäubungsmittel
aufgrund der mutmaßlichen Gefahren für den Einzelnen und die Allgemeinheit einer
umfassenden staatlichen Kontrolle zu unterwerfen und zur Durchsetzung dieser
Kontrolle den unerlaubten Umgang mit Cannabisprodukten lückenlos unter Strafe zu
stellen. Ziel war mithin von Anfang an, wie auch heute, die Verbreitung der Droge in
der Gesellschaft einzuschränken und die damit angeblich vorhandenen Gefahren im
Ganzen zu verringern (vgl. BVerfGE 90, 145, 182). Ob diese Gefahren mittels des
Strafrechts eingedämmt und insoweit die Strafandrohung geeignet ist, obliegt
grundsätzlich zunächst auch hier der Ermessensentscheidung des Gesetzgebers. Ihm
steht insoweit auch hier eine Einschätzungsprärogative dahingehend zu, dass er
entscheidet, welche Mittel tauglich zur Zweckerreichung sind. In der Folge dieses
Einschätzungsspielraumes darf ein Gesetz nur dann mangels Geeignetheit als
verfassungswidrig qualifiziert werden, wenn die gesetzgeberische Prognose
offensichtlich fehlsam ist (vgl. BVerGE 38, 61, 87 ff., 50, 290, 232 ff.; Degenhart,
Staatsrecht l, 11. Aufl. 1995, RdNr. 328). Im Falle der Strafbarkeit des Umgangs mit
Cannabis liegen mittlerweile gesicherte Kenntnisse dahingehend vor, dass die
Strafandrohung nicht konsumhindernd wirkt, also kein konkreter Zusammenhang
zwischen Strafandrohung und Konsumverhalten besteht. Damit hat sich hier die
gesetzgeberische Prognose der Geeignetheit als offensichtlich falsch erwiesen.
Nach Darlegung der gehörten Experten, Prof. Dr. Kleiber, Prof. Dr. Peter Cohen und
Prof. Dr. Uchtenhagen spielt eine Pönalisierung des Wirkstoffes Cannabis für seine
Ausbreitung nicht die geringste Rolle. So führte insbesondere der Sachverständige,
Prof. Dr. Cohen aus, dass die Verbreitung der Droge Cannabis in den Niederlanden, in
denen ein liberaler Umgang gepflegt wird, sich letztlich als geringer darstellt als in
Ländern, die eine repressive Drogenpolitik betreiben würden. So befände sich die
Niederlande hinsichtlich des Cannabiskonsums nach den Ländern Belgien, Dänemark,
Spanien, Frankreich, Irland und Großbritannien an siebter Stelle (vgl. Bl. 141 d. A.). Im

- 4 4 -

Rahmen intensiver internationaler Vergleiche könne er zur sicheren Überzeugung
darlegen, dass ein strafbewertes Umgangsverbot hinsichtlich keiner Region oder keinem
Mitgliedsland in der europäischen Union der Verbreitung der Droge Cannabis
irgendetwas hätte entgegen setzen können.

Auch Prof. Kleiber erklärte, dass keiner der von ihm im Rahmen der umfassenden
Studie angehörten Cannabiskonsumenten auch nur irgendeinen Gedanken daran
verschwendet habe, dass der Gebrauch der Droge und das Umgehen mit derselben
strafbewert sei. Vielmehr hätten alle letztlich ein natürliches Recht zur Verwendung der
Droge für sich selbst gesehen und hätten sich in keiner Weise von einer Pönalisierung
abhalten lassen.

\

Auch Prof. Uchtenhagen sah keine direkte Verbindung zwischen Prävalenz des
Drogenkonsums und der jeweiligen nationalen Drogenpolitik.

Zur Frage, inwieweit eine restriktive Drogenpolitik geeignet sei, den Cannabiskonsum zu
verringern, verwies das Bundesministerium für Gesundheit auf den Jahresbericht 2001
der Europäischen Drogenbeobachtungsstelle (EBDD). Auch aus diesem ergibt sich,
dass die Lebenszeitprävalenz unter Schülern im Alter von 15 bis 16 Jahren nicht im
Verhältnis zu der jeweiligen Drogenpolitik steht (wegen näherer Einzelheiten wird auf die
Webseite der EBDD verwiesen, www.emcdda.europa.eu). Der Sachverständige Prof. Dr. Cohen
erklärte insoweit auf Nachfrage des Gerichts, dass die Verbreitung des Betäubungsmittel
Cannabis statt von der jeweiligen Drogenpolitik von anderen Faktoren abhängig sei. So
habe er europaweit feststellen können, dass insbesondere in ländlichen Gebieten weniger
Cannabis konsumiert würde. Dagegen seien regelmäßig in großstädtischen Bereichen
erheblich mehr Cannabiskonsumenten feststellbar gewesen. Dies sei von Land zu Land in
etwa gleich. Abhängig sei Cannabiskonsum schließlich auch von der jeweiligen Bildung
der Bevölkerung. So sei insbesondere festzustellen, dass Personen mit höherem
Bildungsgrad statistisch gesehen mehr Cannabis konsumieren würden als Personen mit
niedrigerem Bildungsstand.

Die Gutachter führten desweiteren im Einklang aus, dass alle von ihnen gesichteten
Untersuchungen jedenfalls insoweit übereinstimmten, dass alle Wissenschaftler sich
darüber sicher seien, dass mit einer Kriminalisierung der Cannabiskonsum nicht

- 4 5 -

eingeschränkt werden könne (vgl. zum Einfluss der Drogenpolitik auch Körner, Anhang
Cl,RNr. 251).

Vielmehr ist nach Überzeugung des Gerichts die Bestrafung des Umgangs mit
Cannabisprodukten letztlich sogar kontraproduktiv.

So konnte das Gericht in den vergangenen Jahren regelmäßig feststellen, dass gerade
das Verbotene an der Droge Cannabis dazu geführt hat, dass junge Leute diese Droge
konsumieren, insbesondere deshalb, weil sie sich anderen Jugendlichen gegenüber
durch Besitz oder Konsum der Droge wie auch durch Verkaufen derselben als
besonders „wichtig" darstellen können. In den jeweiligen Szenen wollen und können sie
sich als Personen darstellen, die sich frei und ohne Druck nach außen geben. Dies ist
die kontraproduktive Begleiterscheinung des bisherigen Cannabisverbots (vgl.
Landgericht Lübeck NJW 1992, 1571, 1575). Hinzu kommt, dass Drogendealer oftmals
nicht nur das Betäubungsmittel Cannabis sondern auch harte Drogen wie Ecstacy, LSD,
Kokain und Heroin veräußern und damit die Jugendlichen wirklichen Gefahren
ausgesetzt werden. Eine Trennung der Drogenmärkte würde insoweit besseren Schutz
darstellen.

Nach alledem steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Kriminalisierung von
Cannabisprodukten nicht geeignet ist, deren Konsum und den Verkehr mit diesen unter
eine staatliche Kontrolle zu bringen. Wenn die politischen Entscheidungsträger dieses
mittlerweile wissenschaftlich stabile und anerkannte Ergebnis missachten und ihre
Drogenpolitik insoweit nicht ändern mag das eine Sache sein. Die Gerichte jedenfalls
sind verpflichtet, die Verfassung zu achten und anzuwenden. Insbesondere die
Jugendgerichte haben sich tagtäglich mit den praktischen Auswirkungen der Gesetze
auseinanderzusetzen und - wie vorliegend - sodann unter Berücksichtigung
sachverständiger Ausführungen zu prüfen, ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz seitens
des Gesetzgebers noch Berücksichtigung findet (vgl. zur Geeigentheit des Mittels,
Büttner, a. a. 0., S. 119, insbesondere die dort unter Bezug genommenen Stellungnahme
verschiedener öffentlicher Stellen; vgl. auch Bt-Drs.: 12/934, S. 5).

- 4 6 -

c. Erforderlichkeit

Sofern man jedoch den Eingriff in das Grundrecht noch als von einem legitimen Zweck
getragen und geeignet ansieht, so ist das strafbewehrte Verbot des unerlaubten
Umgangs mit Cannabisprodukten jedenfalls nicht erforderlich, um die Ziele des
Gesetzes zu erreichen.

Auf der Grundlage des heutigen Erkenntnisstandes ist die nach wie vor vorhandene
Auffassung des Gesetzgebers, ihm stünden zur Erreichung des gesetzlichen Ziels keine
gleich wirksamen und weniger eingreifenden Mittel als die Strafandrohung zur
Verfügung, nicht mehr haltbar. So hat das Bundesverfassungsgericht bereits im Jahre
1994 (BVerfGE 90, 145, 183) angedeutet, dass es sein könne, dass gesicherte
kriminologische und wissenschaftliche Erkenntnisse den Gesetzgeber im Rahmen einer
erneuten Normenkontrolle dazu bringen könnten, die ehemals getroffene Regelung
abzuändern und durch eine neue zu ersetzen. Seinerzeit ging das
Bundesverfassungsgericht davon aus, dass kriminalpolitisch gesicherte Erkenntnisse
noch keinen solchen Festigkeitsgrad erlangt hätten (vgl. BVerfGE 90, 145 , 183).
Mittlerweile liegt jedoch ein solcher Festigkeitsgrad vor. Ausgehend von dem oben
Dargelegten hat die Pönalisierung die Ausbreitung des Wirkstoffes Cannabis nicht
verhindert. So gehen Schätzungen dahin, dass 20 bis 30 Prozent der
Gesamtbevölkerung in Deutschland Cannabis bereits probiert haben, und dass
regelmäßig die Droge von bis zu 4 Millionen Menschen konsumiert wird (vgl. BVerfGE
90, 145 a. a. O.; Körner a. a. O., Anhang Cl Rdnr. 251). Trotz Kriminalisierung ist es
insbesondere nicht gelungen, den Konsum von Cannabis gerade bei jungen Menschen
zu unterbinden. Vielmehr dürfte der Konsum regelmäßig weiter zunehmen.

Kommt mithin der Strafnorm im Spektrum der möglichen staatlichen Maßnahmen die
schwerwiegendste Eingriffsintensität zu, wirkt diese jedoch nicht, so ist der
Gesetzgeber aufgefordert ein letztlich milderes Mittel zur Zweckerreichung zu suchen,
wenn denn noch der Konsum und Verkehr des Betäubungsmittels Cannabis
eingeschränkt oder reguliert werden soll. So stehen zur Überzeugung des Gerichts weit
weniger einschneidende Möglichkeiten als das strafbewehrte Verbot zur Verfügung.

- 4 7 -

So ist zunächst, um insbesondere Jugendliche vor den Konsum dieser Droge wie auch
vor den Konsum anderer Drogen zu bewahren, eine weit stärkere und ehrlich
praktizierte Präventionsarbeit in den Schulen und Ausbildungsstätten das geringere
eingreifende Mittel. Würde diese im weitaus größeren Umfang als bisher durch gut
ausgebildete Pädagogen und Sozialarbeiter betrieben bestände zunächst die
Möglichkeit, dass Jugendliche aufgrund der dann erworbenen Kenntnisse über einen
verantwortungsvollen Umgang mit der Droge Cannabis betrieben. Sie könnten sich
darüber hinaus auch mit den Ursachen ihres Rauschmittelkonsums auseinandersetzen
und möglicherweise ihre dahinterstehenden persönlichen Probleme erkennen und
angemessen verarbeiten. In diesem Zusammenhang weist das Gericht daraufhin, dass
die pauschale Pönalisierung des Umgangs mit Cannabis letztlich auch verhindert, dass
der Staat seiner Verpflichtung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen (vgl. Art. 6
Abs. 3 GG) im erforderlichen Umfang nachkommt. Es ist insoweit aufgrund der
jugendrichterlichen Tätigkeit gerichtsbekannt, dass viele Eltern aufgrund der
bestehenden Pönalisierung nicht mit ihren Kindern über die Problematik des
Cannabiskonsums sprechen. Aus dem gleichen Grund reagieren auch viele Pädagogen in
den Schulen nicht mit erzieherischen Maßnahmen auf die Einnahme der Droge. Die
einzige präventive Arbeit, die derzeit stattfindet, ist oftmals das Erscheinen von
Polizeibeamten, die den Kindern und Jugendlichen darlegen, dass der Umgang mit
Cannabisprodukten strafgefährdet sei. Dies aber kann den Drogenkonsum nicht effektiv
verhindern und führt in vielen Fällen gerade dazu, dass Jugendliche und bereits Kinder
erst Neugierde verspüren.

Eine vernünftige und nicht durch die Strafbarkeit des Cannabiskonsums behinderte
Präventionsarbeit wäre zwar wesentlich kosteninsiver als derzeit. Es sei aber
angemerkt, dass auf der anderen Seite auch eine erhebliche finanzielle Entlastung
erfolgen könnte, wenn nach einer Entkriminalisierung des Umgangs mit Cannabis
Strafverfolgungs- und Vollzugsbehörden (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte,
Strafvollzugsbeamte) nicht mehr mit diesem Delikt befasst wären. Wenn auch nur ein
Teil der dadurch frei werdenden Ressourcen, in die Präventionsarbeit umgelenkt würde,
wäre zur Überzeugung des Gerichts ein weitaus größerer Erfolg zu erzielen, so
insbesondere bei Langzeitkonsumenten.

- 4 8 -

Dem Gesetzgeber steht ferner das wesentlich mildere Mittel des Ordnungswidrigkeitsrecht,
wie auch das Mittel des Gewerberechts zur Verfügung. Er wäre desweiteren in
der Lage über eine vernünftige Fiskalpolitik den Konsum des Betäubungsmittels
Cannabis einzudämmen. So könnte über die Festlegung hoher Preise sehr wohl eine
Verringerung des Cannabiskonsums insbesondere bei Jugendlichen erfolgen.
Schließlich steht dem Staat auch die Möglichkeit der Abgabe über Apotheken zur
Verfügung (vgl. insoweit Landgericht Lübeck NJW 92, 1571, 1575 , vgl. auch den
Gesetzesentwurf der Landesregierung Rheinland-Pfalz vom 21.01.1993 BR-.Drs. 58/93;
vgl. auch Büttner a. a. O. Seite 127 m. w. N.).

Abgesehen davon, dass es eine Vielzahl von milderen Mitteln gibt, die den Gebrauch
von Cannabis staatlich regulieren und somit möglicherweise einer weiteren Verbreitung
verhindern könnten, könnte auch der Jugendschutz im Rahmen einer glaubwürdigeren
Cannabispolitik vernünftig eingebaut werden. So könnte im Gesetz zum Schutz der
Jugend in der Öffentlichkeit (Jugendschutzgesetz) der Umgang mit dem
Betäubungsmittel Cannabis unter Jugendschutzerwägungen sachgemäß geregelt werden.
In diesem Rahmen stände sodann die Möglichkeit offen, die generelle Abgabe des
Betäubungsmittels Cannabis an Jugendliche auch unter Strafe zu stellen. Dies analog
der Abgabe von alkoholischen Getränken an Jugendliche. Auch im Rahmen des
Gaststättengesetzes bzw. der Gewerbeordnung wäre ein vernünftiger Jugendschutz
hinsichtlich des Cannabiskonsums praktizierbar. Mit diesen Möglichkeiten könnten die
letztlich noch als verblieben zu betrachtenden Risiken im Bereich des Jugendschutzes
besser, glaubwürdiger und schließlich auch verfassungsgemäß behandelt werden.
Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass das Mittel Strafandrohung nicht erforderlich ist.
Die strafrechtliche Legalisierung nebst umfassender Präventionsarbeit als klar weniger
eingreifendes Mittel zeitigt nach den Ausführungen der Sachverständigen bessere
konsummindernde, schützende, d. h. Zweck annähernde bzw. erreichende Ergebnisse.
Die Präventionsarbeit ist wesentlich besser in der Lage» den Gefahren des
Cannabiskonsums - die nach dem oben Dargelegten ohnehin nur sehr gering sind - zu
begegnen und damit das durch die Cannabispönalisierung angestrebte Ziel zu erreichen.

d. Übermaßverbot

- 4 9 -

Sollte man dennoch die Pönalisierung des Cannabisumgangs für legitim, geeignet und
erforderlich erachten, so ist sie allerdings unter heutigen wissenschaftlichen
Erkenntnissen nicht mehr verhältnismäßig im engeren Sinne (Übermaßverbot). Nach
Auffassung des Amtsgerichts verstoßen die zur Prüfung gestellten Strafvorschriften des
Betäubungsmittelgesetzes, soweit sie den Umgang mit Cannabisprodukten betreffen,
gegen das Übermaßverbot. Nach dem Erkenntnisstand in der Wissenschaft kann
zusammenfassend festgestellt werden, dass die mit dem Cannabiskonsum
einhergehenden Probleme und Komplikationen wesentlich geringer ausfallen als noch
1994 seitens des Bundesverfassungsgerichts angenommen und befürchtet wurde. Es
kann heute lediglich noch vertreten werden, dass bei einem äußerst geringen Anteil von
jugendlichen Konsumenten Restrisiken verbleiben.

Das Übermaßverbot kann dazu führen, dass ein ursprünglich geeignetes und
erforderliches Mittel des Rechtsgüterschutzes nicht mehr angewandt werden darf, weil
die davon ausgehenden Beeinträchtigungen der Grundrechte des oder der Betroffenen
den Zuwachs an Rechtsgüterschutz deutlich überwiegen dies mit der Folge, dass der
Einsatz des Schutzmittels unangemessen ist (vgl. BVerfGE 90, 145, 185).

Die Frage, ob ein Eingriff in ein Grundrecht das Übermaßverbot verletzt, ist mit Hilfe
einer Abwägung zu beantworten. Dabei sind einerseits die Wertigkeit des Rechtsgutes,
um dessen Schutz es dem Gesetzgeber geht (hier Schutz der Volksgesundheit, der
Familie, der Jugend), das Ausmaß des diesem Rechtsgut drohenden Schadens, der Grad
der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sowie etwa bestehender Zeit- und
Problemdruck für den Gesetzgeber in Rechnung zu stellen. Andererseits müssen die
Schwere des Eingriffs, seine Breite sowie „Nähe des inkriminierten Verhaltens" zu dem
Schaden bedacht werden. Letzteres spielt insbesondere bei Strafandrohungen^ die
abstrakt - gefährliches Verhalten sanktionieren, eine erhebliche Rolle. Die Gefahrdung
der geschützten Güter kann ein so geringes Maß erreichen, dass die generalpräventiven
Gesichtspunkte, die eine generelle Androhung der Strafe rechtfertigen, an Gewicht
verlieren. Die Strafe könnte dann im Blick auf die Freiheitsrechte des Betroffenen und
unter Berücksichtigung der individuellen Schuld des Täters und der sich hieraus
ergebenden spezialpräventiven kriminalpolitischen Ziele eine übermäßige und deshalb
verfassungswidrige Sanktion darstellen (vgl. BVerfGE 90, 145, 185).

- 5 0 -

Wie oben bereits dargelegt, sind nur wenige überwiegend jugendliche Konsumenten
von Haschisch und Marihuana - und auch dieses wissenschaftlich nicht einmal gesichert
- durch den Konsum der diesbezüglichen Wirkstoffe gefährdet. Relevante Gefahren für
die Allgemeinheit insgesamt oder auch für den Einzelnen ergeben sich nach heutigen
wissenschaftlichen Erkenntnissen durch den Konsum von Cannabisprodukten nicht.
Soweit Gefahren für den einzelnen, insbesondere jugendlichen Konsumenten verbleiben,
sind diese Gefahren letztlich immer auch auf das geringe Alter und den
Entwicklungsstand der Jugendlichen zurückzuführen. Jeder junge Mensch ist im Rahmen
der gesellschaftlichen Sitten und Moralvorstellungen einer Vielzahl von Gefahren
ausgeliefert. Als Beispiele seien genannt: übermäßiger Konsum von Powervideos,
übermäßiger Konsum von Computerspielen, übermäßiger Konsum von Schokolade und
Zucker, übermäßiger Konsum von Alkohol, Betreiben gefährlicher Sportarten,
Teilnahme am Straßenverkehr und schließlich Medikamenten und Nikotinmißbrauch.
Die mit dem Cannabiskonsum einhergehenden Gefahren dürften für Jugendliche letztlich
nicht höher einzustufen sei, als das übermäßige Gebrauchen oder Nutzen anderer Stoffe
und Produkte. Wenn dem aber so ist, so ist auch der Konsum von Cannabis letztlich ein
Teil der bei jedem jungen Menschen vorhandenen allgemeinen Tendenz, in seiner Jugend
Fehler zu begehen und Risiken einzugehen.

Auf der anderen Seite ist die Intensität des Eingriffs in das Grundrecht der Einzelnen
auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeiten insgesamt sehr erheblich. Der Betroffene
muss polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen sich erdulden,
gegebenenfalls anschließend die gerichtliche Hauptverhandlung und danach die
Vollstreckung einer in diesem Verfahren ausgesprochenen Geld- oder Freiheitsstrafe.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in seinem Beschluss vom 09.03.1994 festgestellt,
dass dieser Abwägung durchaus die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der
Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes zur Folge haben könne. Zieht man den
heutigen Erkenntnisstand zu Rate, sieht man auf der anderen Seite noch die erheblichen
Eingriffe in Freiheitsrechte von Bürgern und berücksichtigt man darüber

-51 -

hinaus noch, dass nach wissenschaftlichen Erkenntnissen aufgrund von
Cannabiskonsum nicht ein einziger Todesfall herbeigeführt wurde, ist es
verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt mit den Mitteln des Strafrechts eine
Eindämmung des Cannabiskonsums anzugehen.

2. Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG

Soweit die dem Bundesverfassungsgericht zur Beurteilung vorgelegten Strafgesetze für
das Gericht die Möglichkeit der Verhängung von Freiheitsstrafen oder Jugendstrafen
vorsehen, verstoßen sie weiterhin gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, wonach die Freiheit
der Person unverletzlich ist. In dieses durch das Grundgesetz als besonders hohes
Rechtsgut ausgeprägte Grundrecht darf nur auf Grund des Gesetzesvorbehalts des Art. 2
Abs. 2 Satz 3 GG eingegriffen werden.

Die Freiheitsbeeinträchtigung im vorliegenden Fall beginnt bereits damit, dass das
Gericht in die Lage versetzt wird, den Angeklagten zu einer Hauptverhandlung zu laden
und für den Fall des Nichterscheines Vorführung oder gar Haftbefehl gemäß § 230
StPO zu erlassen. Abgesehen hiervon sieht das Gesetz selbst bei Verhalten, die letztlich
nur den gelegentlichen Eigenverbrauch geringer Mengen von Cannabisprodukten
vorbereiten und nicht mit einer Fremdgefährdung verbunden sind, jedenfalls
grundsätzlich auch die Möglichkeit des Freiheitsentzuges vor.

Auch im Falle der Anwendung des Jugendstrafrechtes hat das Gericht die Möglichkeit,
Arrest oder Jugendstrafe zu verhängen. Bereits der Wochenendarrest stellt einen
Freiheitsentzug dar. Das Gericht hätte vorliegend also die Möglichkeit, dem
Angeklagten kurzfristig seiner Freiheit zu entziehen und damit in das Grundrecht aus
Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG einzugreifen

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind
Freiheitsentziehungen nur zulässig, wenn der Schutz anderer oder der Allgemeinheit
dies unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfordert (vgl.
BVerfGE 58, 208, 224 ff.; 59, 275, 278). Wie oben bereits ausgeführt, sieht das
Amtsgericht die Strafvorschriften des Betäubungsmittelrechts, soweit sie
Handlungsweisen im Umgang mit Cannabis unter Strafe stellen, angesichts des

- 5 2 -

wissenschaftlichen Standes für nicht mehr verhältnismäßig an. Wenn sich dieses bereits
im Rahmen der Prüfung einer Verfassungswidrigkeit gemäß Art. 2 Abs. l GG ergibt,
dann muss dies erst recht im Bereich der Einschränkung des Rechts auf Freiheit der
Person gelten. Die Gefahren für den Konsumenten, Dritte und die Allgemeinheit sind,
wie oben ausgeführt, dermaßen gering, dass sie die Verhängung von
freiheitsentziehenden Maßnahmen nicht rechtfertigen und insoweit nicht
verhältnismäßig sind. Hinsichtlich der einzelnen Aspekte des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gilt das oben bei der Prüfung von Art. 2 Abs. l GG
dargelegte (vgl. S. 17 ff.).

3. Verstoß gegen Art. 3 Abs. l GG

- Gleichheitsgrundsatz -

Im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. l GG hält das
Amtsgericht weiter das Betäubungsmittelstrafrecht, soweit es Umgangsformen mit dem
Betäubungsmittel Cannabis unter Strafe stellt, deswegen für verletzt, weil der Umgang
mit Alkohol nicht der Kriminalisierung durch das Betäubungsmittelgesetz unterliegt
und für diese Unterscheidung keine sachliche Rechtfertigung besteht.

Im Rahmen der Vorlagebeschlüsse des Landgerichts Lübeck (vgl. NJW 1992, 1571 ff.)
und des Landgerichts Frankfurt (Main) (vgl. Strafverteidiger 1993, S. 77, 81) wurde
bereits seinerzeit umfassend dargelegt, dass im konkreten Vergleich zwischen der
Droge Alkohol einerseits und der Droge Cannabis anderseits das Gefahrdungspotenzial
bei Alkohol erheblich größer ist. Wegen der Darlegung im Einzelnen wird auf die
Beschlüsse verwiesen. Es sei jedoch nochmals in Erinnerung gebracht, dass ca. 40 000
Todesfalle im Jahr auf Alkoholmissbrauch zurückzuführen sind. Ein Cannabistoter ist
dagegen wissenschaftlich nicht bekannt. Die Risiken, die der Volksgesundheit durch
Missbrauch von Alkohol entstehen, dürften heute wissenschaftlich anerkannt und
insoweit auch in der Hauptverhandlung durch die gehörten Gutachter dargelegt um ein
Vielfaches höher sein, als die Risiken, die mit dem Cannabisgebrauch einhergehen (vgl.
auch zu den Risiken von Alkohol und Nikotin Schmidtbauer / vom Scheidt, Handbuch

-53 -

der Rauschdrogen).

Trotz der seinerzeit bekannten erheblichen Risiken bei Alkohol hielt das
Bundesverfassungsgericht gleichwohl den Gleichheitsgrundsatz für nicht verletzt. Das
Bundesverfassungsgericht hielt damals die unterschiedliche Behandlung von Cannabisprodukten
und Alkohol für gerechtfertigt, weil sich der Konsum von Alkohol dadurch
von dem Konsum von Cannabis unterscheide, dass er in der Regel und im Rahmen einer
Vielzahl von Verwendungsmöglichkeiten erfolge (vgl. BVerfGE 90, 145, 197). So
könne man alkoholhaltige Substanzen als Lebens- und Genussmittel einsetzen, in Form
von Wein würden sie auch im religiösen Bereich verwandt. Insbesondere sei der
Konsum von Alkohol nicht rauschorientiert; so dominiere eine Verwendung des Alkohols
dahingehend, dass dieser nicht zu Rauschzuständen verwandt würde. Dagegen - so das
Bundesverfassungsgericht 1994 - stehe beim Konsum von Cannabisprodukten
typischerweise die Erzielung einer berauschenden Wirkung im Vordergrund (vgl.
BVerfGE 90, 145, 197). Schließlich sei die unterschiedliche Behandlung von Alkohol
und Cannabis deswegen gerechtfertigt, weil es sich letztlich, so sinngemäß, bei Alkohol
um eine europäische Kulturdroge handle, die sich insoweit von dem Rauschmittel
Cannabis unterscheide. Dabei ging das Bundesverfassungsgericht unter Berücksichtigung
des damaligen Erkenntnisstandes noch davon aus, dass es sich bei den von ihm im
Rahmen des Gleichheitsgrundsatzes geprüften Drogen um „potenziell gleichschädliche
Drogen" handele. Dies kann heute nicht mehr vertreten werden.

Unter Berücksichtigung der neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse kann heute nicht
mehr davon ausgegangen werden, dass es sich bei den Betäubungsmitteln Alkohol und
Cannabis um potenziell gleich schädliche Drogen handelt. Bei Beachtung der-
wissenschaftlich noch haltbaren Risiken hinsichtlich des Cannabiskonsums (Vgl. oben)
und den als allgemeinkundig zu betrachteten Risiken beim Alkoholmissbrauch kann die
These der „potenziell gleich schädlichen Drogen" nicht mehr gehalten werden. Insoweit
ist auch auf die Stellungnahme des Bundesministeriums für Gesundheit einzugehen.
Hier verweist das Bundesministerium für Gesundheit zu einer möglichen Reihenfolge
im Hinblick auf die Risiken einzelner Suchtstoffe auf eine Studie aus dem Jahre 1996,
wonach Cannabis als weniger gefährlich eingestuft wird als beispielsweise Alkohol und
Ecstasy (vgl., Farenkrug, H. und G. Mel. G. 1996 „Nach Heroin und Kokain gleich
Alkohol und Nikotin" Abhängigkeit, 2 (l, 43 - 46)). Farenkrug und Mel kommen zu der

-54-

Auffassung, dass Alkohol wesentlich gefährlicher ist. Auch eine durch die
Weltgesundheitsorganisation eingeholte weitere Expertise, (die allerdings trotz
Ankündigung durch die WHO nicht in den Cannabisbericht 1997 aufgenommen wurde),
kommt zu dem Ergebnis, dass Cannabis im Verhältnis zum Alkohol die wesentlich
mildere Droge sei.

Da darüber hinaus heute selbst eine andere Einschätzung des Bundesministeriums für
Gesundheit vorliegt, konnte auch das Amtsgericht Bernau zur sicheren Überzeugung
gelangen, dass das Betäubungsmittel Alkohol um ein vielfaches gefährlicher ist als die
Droge Cannabis. Wenn dem so ist, gibt es keinerlei Gründe für die unterschiedliche
Behandlung mehr. So kann zunächst einmal nach den Ausführungen der Sachverständigen
Prof. Kleiber und Prof. Cohen das Rauschmittel Cannabis in allen denkbaren
unterschiedlichen Dosierungen angewandt werden. Es kann medizinisch sowie zu
religiösen Zwecken gebraucht werden. Es kann zum Zwecke des Vollrausches wie auch
zum Zwecke des nur geringen Rausches verwandt werden. Da aber nicht jederzeit mit
dem Konsum von Cannabis ein überzogener Rausch herbeigeführt werden muss, sieht das
Amtsgericht keinerlei Unterschiede im Verhältnis zu der Anwendung von Alkohol. Auch
der kleine Schnaps oder das kleine Bier ist wie der Zug an einer Marihuanazigarette
nicht mit einem absoluten Berauschen verbunden. Insoweit ist bei beiden Drogen
regelmäßig die Dosierung und die Art der jeweiligen Cannabisstoffe von entscheidender
Bedeutung. So stimulieren unterschiedliche Marihuanaarten teilweise härter und
teilweise schwächer; dies entsprechend den unterschiedlichen Alkoholika. (vgl. zum
Ganzen Schmidtbauer / vom Scheidt, Handbuch der Rauschdrogen, S. 78 ff.)
In der Wissenschaft ist es desweiteren heute unbestritten, dass der Wirkstoff Cannabis in
vielfältiger Hinsicht in der Medizin sinnvolle Anwendungsgebiete findet. So kann
Cannabis insbesondere bei Krebs- und Aidspatienten den schnellen körperlichen Verfall
mindestens herauszögern, um nur ein Anwendungsgebiet aufzuzeigen (vgl. zur
medizinischen Anwendungsmöglichkeit Kleiber/Kovar, wie oben zitiert S. 31 bis 33). In
diesem Zusammenhang soll angemerkt werden, dass aufgrund der
Cannabiskriminalisierung totkranke Menschen den für sie hinsichtlich ihrer jeweiligen
Krankheiten milderungbringenden Cannabiswirkstoff illegal besorgen müssen und
insoweit durch die Gesellschaft insbesondere in ihrer Menschenwürde verletzt werden.
Gerade diese Menschen werden aufgrund der gegenwärtig bestehenden

-55 -

Cannabisprohibition ohne nachvollziehbaren Grund nicht mit den Schutz versehen, der
ihnen aus Art. l S. l GG gebührt.

Auch dürfte mittlerweile allgemeinkundig sein, dass die Hanfpflanze in vielfältiger
Hinsicht landwirtschaftlich genutzt werden kann und als Grundstoff für unzählige
Gebrauchsgegenstände dient (vgl. Schmidtbauer/vom Scheidt, S. 78 ff.).

Soweit das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss aus dem Jahren 1994
letztlich damit argumentierte, dass die Konsumgewohnheiten in Deutschland und den
gesamten europäischen Kulturkreis eine effektive Unterbindung von Alkohol
unmöglich mache, dies für die „kulturfremde Droge Cannabis" jedoch nicht gelte, kann
dies jedenfalls heute nicht mehr so gelten (so auch Büttner, a. a. O, 167 ff., 172). Denn
angesichts von bis zu 4 Millionen oder nach anderen Statistiken sogar bis zu 10
Millionen Cannabiskonsumenten in der Bundesrepublik Deutschland sowie bald 30 % der
Bevölkerung, die die Droge probierten, kann sicherlich von einer kulturfremden Droge
heutzutage nicht mehr gesprochen werden. Vielmehr ist Cannabis im Verhältnis zu
früheren Jahren eine heute in der Gesellschaft dermaßen weit verbreitete Droge, dass von
einer auch im hiesigen Kulturkreis benutzten Alltagsdroge gesprochen werden muss (vgl.
Körner, BtmG, 5. Auflage, Anhang C l Rdnr. 251). Hierbei darf nicht außer Acht gelassen
werden, dass die „Kulturfremdheit" des Betäubungsmittel Cannabis letztlich erst durch
die einschlägigen Strafvorschriften Anfang des 20. Jahrhunderts herbeigeführt wurde. So
war das Betäubungsmittel Cannabis bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein in
Mittel- und Westeuropa in Apotheken erhältlich und wurde in den letzten europäischen
Ländern erst 1920 verboten (vgl. Schmidtbauer/vom Scheidt, a. a. O., S. 89). Noch
bis zu Beginn der 20er Jahre erhielten zahlreiche Zigarettenmarken auch in Deutschland
bis zu 9 % Cannabis (vgl. Körner a* a. O. Anhang, C l Rdnr. 231). Auch wurde das
Betäubungsmittel Cannabis - Marihuana ~ noch bis in die 20er Jahre des 20.
Jahrhunderts regelmäßig unter der Bezeichnung „Knaster" - Harter Tobak - von
Landwirten in ganz Deutschland und Europa geraucht. Die Bauern stopften sich
Hanfblätter in ihre Pfeifen (vgl. Hans-Georg Behr, Von Hanf ist die Rede, Basel 1982, S.
10; Brockhaus zum Stichwort Knaster). Behr schrieb:

„Manchmal gibt das originelle Situationen. Eine, auch schon wieder ein gutes Dutzend
Jahre her, ergab sich an einem sonnigen Sonntagnachmittag im Dorfwirtshaus von

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Thalshausen in Bayern. Am langen Stammtisch sassen traditionsgemäss die Bauern,
schwarze Sonntagsanzüge, zur politischen Philosophie passend, und Gesichter wie ihre
Landschaft. In einer Ecke sass ein Häufchen naturtrunkener Hippies auf der Durchreise,
unbayrisch bunt und provozierend langhaarig. Das Gesprächtsthema war gegeben, und
ich sass, wie so häufig, dazwischen. „Und a Haschisch rauchen die sicherlich aa no",
knurrte der klobigste Bayer, und dann zu mir: „Wos is denn dös ieberhaupt fier a
Zeug?" „Hanf, sagte ich vorsichtig. Die Bauerngesichter wurden ungläubig lang. „A
Haunf is dös?" glotzte der Bürgermeister. „Oba dös hamma jo sölber graucht alsa
Junger."

Es stellte sich heraus: Damals war Hanfbau in Bayern noch üblich, und die ganz Alten
stopften sich Blättchen als Tabakersatz in die Pfeife. Die nun als Alte dasitzenden
Jungen taten's ihnen heimlich nach. „Kraut" hieß die Sache, und der Name hat sich als
Gattungsbezeichnung für billigsten Tabak erhalten.

„Und dös soll a Rauschgift sein?" staunte der Obmann der Freiwilligen Feuerwehr.
„Nun ja", fragte ich, „haben Sie damals nichts gespürt?" „Joo - rauschig is ma halt a
wengerl worden. Deswegen hammers jo aa geraucht."

Und der Dorfgendarm, der als Grund- und Bodenloser natürlich nicht am
Bauernstammtisch sitzen durfte und außerdem noch nach dem Krieg aus Thüringen
zuwandert war, erzählte, dass in seiner Heimat das Zeug Knaster geheißen hatte, und
dass es im übrigen genauso war. Damit hatte die schwarze Tafelrunde ein neues Thema
gefunden, erging sich in aufgewärmten Jugendstreichen, und die Hippies blieben
ungeschoren."

Im Ergebnis ist also festzustellen, dass Cannabis - gewonnen aus Hanf - eine auch
europäische Kulturdroge war und ist.

Bezieht man schließlich in die Betrachtung noch mit ein, dass bei Rohheitsdelikten in
ca. 50 % aller Fälle Alkohol im Spiel ist, während bei Cannabisprodukten, auf Grund
der beruhigenden Wirkung, die ihnen zugeschrieben werden, dies nicht der Fall ist, gibt es
nicht mehr nur einen einzigen Grund für die unterschiedliche Behandlung dieser
Drogen. Dies muss jedenfalls in einer modernen und aufgeklärten Gesellschaft wie der

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Bundesrepublik Deutschland gelten, die gerade die härtesten Eingriffe, die der Staat
durchführt - Strafverfolgung seiner Bürger - nicht mehr nur aufgrund von
wissenschaftlich nicht mehr haltbaren Erkenntnissen vornehmen darf. Die Minderheit
der Cannabiskonsumenten in der Bundesrepublik Deutschland dürfte nach Auffassung
des Amtsgerichts Bernau zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Gruppe darstellen, die ohne
sachlichen Grund strafrechtlich am meisten in Mitleidenschaft gezogen wird. Das
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland will gerade den Minderheiten Schutz
durch Art. 3 GG im besonderen Maße gewährleisten. Der Staat jedenfalls ist bis zum
gegenwärtigen Zeitpunkt seiner Aufgabe, auch diese Minderheit zu schützen, nicht
gerecht geworden. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass auch Kaffee- und
Nikotinkonsum in deutschen Landen vor nicht allzu langer Zeit pönalisiert und bisweilen
sogar mit der Todesstrafe sanktioniert wurden (vgl. Schneider, Betrifft Justiz 2001, S.
37,38).

Abschließend soll noch darauf hingewiesen werden, dass zumindest im
Straßenverkehrsrecht, insbesondere im Bereich der §§ 315 c StGB wie auch im Rahmen des
§ 316 StGB die akute Beeinflussung durch das Betäubungsmittel Cannabis einerseits und
Betäubungsmittel Alkohol andererseits rechtlich und tatsächlich gleich behandelt wird.
Insoweit hat das Amtsgericht Bernau in den vergangenen Jahren diversen Personen die
Fahrerlaubnis entzogen, die unter akutem Einfluss von Cannabis standen und hierdurch
fahruntüchtig waren. Hier wird jedenfalls die Droge Alkohol mit der Droge Cannabis
gleichgestellt. Dies ist nach Auffassung des Amtsgerichts Bernau allerdings in sämtlichen
Lebensbereichen geboten.

Unter Berücksichtigung der feststehenden Tatsache, dass das Betäubungsmittel Cannabis -
wissenschaftlich belegt - diejenige Droge ist, von der gesamtgesellschaftlich. gesehen die
geringsten Risiken ausgehen, verbietet sich insoweit eine Ungleichbehandlung im Verhältnis
zu der Droge Alkohol. Soweit man dem noch entgegenhalten möchte, dass es keine
Gleichbehandlung in Unrecht gäbe, so vermag auch dieses Argument nicht zu
überzeugen. Es stellt sicherlich kein Unrecht dar, den Umgang mit Alkohol nicht unter
Strafe zu stellen. Ist dem aber so, dann handelt es sich um Gleichbehandlung im Recht und
nicht im Unrecht.

Zusammenfassend ist damit festzustellen, dass die gegenwärtigen Regelungen des

-58-

Betäubungsmittelgesetzes hinsichtlich des Umganges mit dem Betäubungsmittel Cannabis
mangels Vorliegen eines sachlichen Grundes für die Ungleichbehandlung mit dem
Betäubungsmittel Alkohol gegen Art. 3 Abs. l GG verstoßen.

B.
Verfassungswidrigkeit des § 29 Abs. l Satz l Nr. l und 3 BtmG i. V. m. der Anlage l zu
§ l BtmG.

Sofern man jedoch nach wie vor geringe Risiken für die Volksgesundheit und für den
Jugendschutz bejahen sollte, diese jedenfalls nicht ausschließen kann und insoweit die
Beweislast zu Lasten der Freiheitsrechte verteilt und mithin nicht alle Regelungen des
Betäubungsmittelgesetzes hinsichtlich des Umgangs mit dem Betäubungsmittel Cannabis
für verfassungswidrig erachtet, verstoßen jedenfalls die Regelungen, deren Überprüfung
hilfsweise dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt werden in
vielerlei Hinsicht gegen Grundrechte.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 09.03.1994
diese
Regelungen deshalb nicht für verfassungswidrig erklärt, weil der Gesetzgeber es den
Strafverfolgungsbehörden ermögliche, durch das Absehen von Strafverfolgung
gemäß §§ 153, 153 a StPO, 31 a BtmG oder durch das Absehen von Strafe gemäß §
29 Abs. 5 BtmG einen geringen individuellen Unrecht - und Schuldgehalt der Tat
Rechnung zu tragen. Das Bundesverfassungsgericht führte jedoch weiter aus, dass
von der Verfolgung der bezeichneten Straftaten regelmäßig abzusehen sei und
mahnte zugleich eine einheitliche Regelung auf der gesamten Bundesebene an (vgl.
BVerfGE 90, 145, 190/191).

Acht Jahre nach Ergehen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts und unter
Berücksichtigung der oben dargelegten neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen ist das
Amtsgericht Bernau zu der festen Überzeugung gelangt, dass die damals durch das
Bundesverfassungsgericht gewählte sogenannte prozessuale Lösung verfassungswidrige
Eingriffe in die Rechte von Bürgern nicht zu verhindern mochte (vgl. insoweit BVerfGE
90, 145, abweichende Ansicht Sommer S. 212 ff.). So zeigt bereits der hier

- 5 9 -

dem Bundesverfassungsgericht vorgelegte Fall, dass nach wie vor trotz der
Einstellungsmöglichkeiten durch die Staatsanwaltschaft gegen das Übermaßverbot
verstoßen wird. Abgesehen davon dürfte - insoweit gerichtsbekannt - in tagtäglicher
Praxis in vielen tausenden von Fällen in den vergangenen Jahren gegen das
Übermaßverbot verstoßen worden sein. Denn entgegen der im' Beschluss vom
09.03.1994 letztlich sinngemäß zum Ausdruck gekommenen Ansicht beginnt das
Strafverfahren bereits mit der Kenntnis der Ermittlungsbehörden von der Tat, mithin
mit der Kenntnis, dass ein Bürger auch nur ganz geringfügig gegen die Vorschrift des §
29 Abs. l Nr. l oder 3 verstoßen hat. Bereits zu diesem Zeitpunkt beginnt das für den
Bürger mit Eingriffen in seine Grundrechte verbundene Strafverfahren.

Er hat sich zunächst einer polizeilichen Überprüfung zu unterziehen, die in jedem Fall
mit einer Beschuldigtenvernehmung und gegebenenfalls auch mit seiner vorläufigen
Festnahme verbunden ist. Im Rahmen der Strafprozessordnung besteht sodann die
Möglichkeit, erkennungsdienstliche Maßnahmen bzw. auch Hausdurchsuchungen
seitens der Ermittlungsbehörden durchzuführen. Nachdem diese Maßnahmen getroffen
und mithin bereits diverse Eingriffe in die Grundrechte der Bürger erfolgt sind, ist die
Staatsanwaltschaft nach dem Legalitätsprinzip gemäß § 152 Abs. 2 StPO zunächst
einmal verpflichtet einzuschreiten. In Durchbrechung des Legalitätsprinzips kann sie
nach dem so genannten Opportunitätsprinzip sodann hinsichtlich des Umgangs mit
geringer Mengen Cannabis gemäß § 31 a Abs. l BtmG von der Verfolgung absehen.
Macht sie dieses nicht, hat sie noch die Möglichkeit gegebenenfalls mit Zustimmung des
Gericht gemäß den §§ 153, 153 a StPO von der Verfolgung abzusehen. Wendet sie §
153 a StPO an, so ist auch damit bereits ein Eingriff in die Grundrechte des
Beschuldigten verbunden. Denn Auflagen, die ihm gemäß dieser Vorschrift auferlegt
werden können, haben zwar keinen Strafcharakter, sind jedoch immer noch als
besondere nichtstrafrechtliche Sanktion „zu kennzeichnen" (vgl. Kleinknecht/Meyer -
Gossner, StPO Kommentar, 44. Aufl., 1999, § 153 a, Rdnr. 12). Erhebt die
Staatsanwaltschaft sodann noch - unter Verletzung des Übermaßverbotes - Anklage oder
beantragt den Erlass eines Strafbefehls wie im vorliegenden Verfahren, so hat sich der
Bürger bereits einem gerichtlichen Verfahren zu unterziehen. Er hat den Ladungen des
Gerichts Folge zu leisten und kann gegebenenfalls mittels Zwang zu einer
Hauptverhandlung zugeführt werden, so mit den Mitteln des Vorführungsbefehls oder

-60-

dem Erlass eines Haftbefehls. Erst hiernach kommt es zur Hauptverhandlung und der
Angeklagte, der mittlerweile einer vielfältigen Eingriffsserie in seine Grundrechte
unterzogen wurde, kann darlegen, dass das gesamte Verhalten der Staatsanwaltschaft
gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot verstoße. Im Falle, dass das Gericht
sodann gleichfalls von einer Verletzung des Übermaßverbotes ausgeht und gem. § 25
Abs. 5 BtmG die Schuld des Angeklagten feststellt und von Strafe absieht, hat es diesen
weiter mit der Kostenfolge des § 465 Abs. l Satz 2 zu belegen. Auch dies stellt eine
sanktionsähnliche und mit einem in das Grundrecht der jeweiligen Bürger versehenen
Eingriff dar. Schließlich wird hinsichtlich aller zuvor beschriebener
Verfahrensbeendigungen gem. § 474 ff. StPO die Eintragung in das
länderübergreifende staatsanwaltliche Verfahrensregister veranlasst, womit der Bürger
zumindestens intern weiterhin mit einem Strafverfahrensmakel belastet wird.
Im Rahmen der Vorgehensweise gegen Bagatellkonsumenten soll schließlich noch
darauf hingewiesen werden, dass insoweit gegen die in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte
Rechtswegsgarantie verstoßen wird. Gemäß Art. 19 Abs. 4 GG steht jedem Bürger, der
Rechtsweg offen, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird.
Wenn sich - wie bei Strafverfolgungen wegen einer nur als gering zu bezeichneten
Menge Cannabis - die Staatsanwaltschaft unter Verstoß gegen das Übermaßverbot
weigert, ein Ermittlungsverfahren einzustellen, hat der Beschuldigte keinerlei
Möglichkeit, hiergegen vorzugehen (vgl. auch BVerfGE 90, 145, 225, Sondervotum
Sommer; Büttner a. a. O., S. 148 ). Erst nach Anklageerhebung kann er verlangen, dass
das Gericht zumindestens von Strafe absieht, wie es nach der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1994 zu erfolgen hat. Allerdings bewahrt ihn
auch dies letztendlich nicht vor einer Verletzung seiner Grundrechte, da diese - wie
dargelegt - bereits erfolgt ist und durch eine Entscheidung gem. § 29 Abs. 5 BtmG
weiter erfolgt.

Unter genauer Betrachtung des zuvor dargelegten Geschehens hat der Staat durch seine
vielfältigen Eingriffe in die Rechte des von Amts wegen zu verfolgenden Bagatellkonsumenten
eingriffen und nach Ansicht des Amtsgerichts Bernau regelmäßig deren
verfassungsrechtlich verankerte Grundrechte außer Acht gelassen.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass

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die Regelungen des § 29 Abs. l Nr. l und 3 BtmG, soweit sie zur Entscheidung
vorgelegt wurden gegen folgende Grundrechte und verfassungsrechtliche Regelungen
verstoßen:

1. Verstoß gegen Art. 2 Abs. l GG

Unter Berücksichtigung des sich aus der Hauptverhandlung ergebenen Erkenntnisstandes
des Gericht werden die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes, soweit
sie Verhaltensweise mit Strafe bedrohen, die ausschließlich den gelegentlichen
Eigenverbrauch geringer Mengen von Cannabisprodukten vorbereiten und nicht mit
einer Fremdgefährdung verbunden sind, von keinem legitimen Zweck mehr getragen.
Da die Strafverfolgung bereits mit der Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden von der
Tat beginnt und Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürger bedingen, müssen die zur
Prüfung gestellten Strafvorschriften daher bereits mangels Vorliegen eines legitimen
Zwecks als verfassungswidrig bezeichnet werden. Sie sind darüber hinaus nicht geeignet
und auch nicht erforderlich (vgl. insoweit oben zu A. 1.).

Soweit das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1994 die Strafvorschriften letztlich
dennoch als verhältnismäßig im engeren Sinne betrachtet und das Übermaßverbot nicht
verletzt gesehen hat, vermag dies möglicherweise 1994 noch eine Berechtigung gehabt
haben, nicht jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt.

Denn wenn die Gefährdung der geschützten Güter ein so geringes Maß erreicht, dass
die generalpräventiven Gesichtspunkte, die eine generelle Androhung der Strafe
rechtfertigen, an Gewicht verlieren, kann eine grundsätzlich angedrohte Strafe im Blick
auf die Freiheitsrechte des Betroffenen und unter Berücksichtigung der individuellen
Schuld des Täters eine verfassungswidrige Sanktion darstellen. Danach ist mit Blick auf
die Strafandrohung gegen den Umgang mit geringen Mengen von Cannabisprodukten
zum Zwecke des Eigenkonsums festzuhalten, dass Gefahren letztlich nur entstehen,
wenn der Konsument nicht nur gelegentlich Haschisch und Marihuana zu sich nimmt
sondern erst bei übermäßigen, in kurzen Abstand stattfindenden Gebrauch und auch hier
nicht einmal wissenschaftlich gesichert. Weitere Gefahren für die Allgemeinheit oder
auch für den Einzelnen ergeben sich nach heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen
durch den Konsum von Cannabisprodukten nicht.

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Dagegen ist die Intensität des Eingriffs in das Grundrecht des Art. 2 Abs. l insgesamt,
jedenfalls solange lediglich der Umgang mit geringen Mengen von Cannabisprodukten
verfolgt wird, sehr erheblich. Wie oben dargelegt, muss der Betroffene sich ein
polizeiliches und ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren gegen sich
erdulden; gegebenenfalls anschließend die gerichtliche Hauptverhandlung und danach
die Vollstreckung einer in diesem Verfahren ausgesprochenen Geld- oder Freiheitsstrafe
oder auch eine Auflage nach § 153 a StPO. Bereits 1994 hat das
Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Abwägung zwischen dem Eingriff in die
Grundrechte und dem Schutz von Rechtsgütern hinsichtlich des Umgangs mit geringen
Mengen Cannabis die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der diesbezüglichen
Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes zur Folge haben könne (vgl. BVerfGE
90, 145, 185). Insoweit führte das Gericht seinerzeit aus, dass gerade in den Fällen, in
denen die Cannabisprodukte lediglich in geringen Mengen zum gelegentlichen
Eigenverbrauch erworben und besessen würden das von der Tat ausgehende Maß der
Rechtsgütergefährdung und individuellen „Schuld" sehr gering sein könne. Insgesamt
sei der individuelle Beitrag der Kleinkonsumenten zur Verwirklichung der Gefahren,
vor denen das Verbot des Umgangs mit Cannabisprodukten schützen solle, gering.
Dem Übermaßverbot sollte durch verfahrensbeendende Einstellungsmöglichkeiten der
Staatsanwaltschaft bzw. durch das Absehen von Strafe nach § 29 Abs. 5 BtmG letztlich
Genüge getan werden.

Abgesehen davon, dass das Übermaßverbot regelmäßig - wie der vorliegende Fall zeigt
- verletzt wird, führt eine sachgemäße Abwägung heutzutage dazu, dass mittels der
Ermessensentscheidungen bei Staatsanwaltschaft und Gericht die Einhaltung der
verfassungsrechtlichen Prinzipien nicht herbeigeführt werden kann. Insoweit verstoßen
die zur Überprüfung gestellten Strafvorschriften gegen das Übermaß verbot und
verletzten damit Art. 2 Abs. l S. l GG.

2. Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG

Wie oben bereits ausgeführt, ist gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person
unverletzlich. In dieses Freiheitsrecht darf nur auf Grund des Gesetzesvorbehalts des

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Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG eingegriffen werden. Im vorliegenden Fall hatte sich der
Angeklagte bereits mehrerer Freiheitsbeeinträchtigungen zu unterziehen. Er könnte -
sofern das Gericht diesbezügliche Anträge positiv bescheiden würde - mittels des
Erlasses eines Vorführungsbefehls oder gar Haftbefehls weiter in seiner Freiheit
beeinträchtigt werden. Das Gericht wäre in der Lage Arrest oder Geldstrafe zu
verhängen. Letztere wäre für den Fall der Nichtbezahlung mit Ersatzfreiheitsstrafe
verbunden.

Wie oben bereits ausgeführt sind Freiheitsentziehungen nur zulässig, wenn der Schutz
anderer oder der Allgemeinheit dies unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
erfordert. Soweit Handlungsweisen im Umgang mit Cannabis unter Strafe
gestellt werden, die lediglich dem Eigenkonsum dienen, stellt sich dieses angesichts des
wissenschaftlichen Standes als nicht mehr verhältnismäßig dar. Die Gefahren für Dritte
oder für die Allgemeinheit sind bei geringen Mengen Cannabis zum Eigenverbrauch
dermaßen gering, dass sie die Androhung oder schließliche Verhängung von
freiheitsentziehenden Maßnahmen in keinem Fall mehr rechtfertigen. Dem Gesetzgeber
dürfte es mittlerweile verwehrt sein, den Staatsanwaltschaften und Gerichten die
Möglichkeit zu geben, Konsumenten von Cannabis mit Freiheitsentzug zu belegen. Es
ist nicht verfassungsgemäß, dass es im Ermessen der unterschiedlichsten subjektiven
Wertungen verschiedener Staatsanwälte und Richter steht, ob jemand einer
Freiheitsentziehenden Maßnahme zugeführt wird oder nicht.

Wenn dies aber der Fall ist, dann verstoßen die zur Überprüfung gestellten Strafvorschriften
gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.

3. Verstoß gegen Art. 3 Abs. l GG im Bezug auf die Rechtsahnwendungspraxis des
§ 31 a BtmG

Die derzeitige strafrechtliche Verfolgungspraxis bezüglich Cannabiskonsumenten und
deren Verhaltensweisen verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz gem. Art. 3 Abs. l GG.

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a. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 09.03.1994

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 09.03.1994 verstoßen die
Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes soweit sie Verhaltensweisen unter
Strafe stellen, die ausschließlich den gelegentlichen Eigenverbrauch geringer Mengen von
Cannabis vorbereiten und nicht mit einer Fremdgefahrdung verbunden sind, deshalb
nicht gegen das Übermaßverbot, weil der Gesetzgeber es den
Verfolgungsorganen ermögliche, durch das Absehen von Strafe oder Strafverfolgung
einem geringen individuellen Unrechts- und Schuldgehalt der Tat Rechnung zutragen. Das
Bundesverfassungsgericht verpflichtete insoweit die Strafverfolgungsorgane nach dem
Übermaßverbot von der Verfolgung der in § 31 a BtmG bezeichneten Straftaten
grundsätzlich abzusehen (vgl. BVerfGE 145, 146 Nr. 3 d. Leitsatzes). In seiner
Begründung hat das Bundesverfassungsgericht es als bedenklich angesehen, wenn es bei
einer bis 1994 vom Bundesverfassungsgericht festgestellten unterschiedlichen
Einstellungspraxis in den verschiedenen Bundesländern bliebe (vgl. BVergGE 90, 145,
190). Als zentrale Differenzpunkte wurden dabei die Bestimmungen zur geringen
Menge und die rechtliche Behandlung von Wiederholungstätern genannt (vgl. BVerfGE 90,
145, 190). Das Bundesverfassungsgericht verpflichtete insoweit die Länder, für eine im
wesentlichen einheitliche Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaften zu sorgen. Eine
solche im wesentlichen einheitliche Einstellungspraxis sei nicht gewährleistet, sofern
„die Behörden in den Ländern durch allgemeine Weisungen die Verfolgung bestimmter
Verhaltensweisen nach abstrakt - generellen Merkmalen wesentlich unterschiedlich
vorschrieben oder unterbänden" (BVerfGE 90, 145, 191). Das
Bundesverfassungsgericht hat mithin 1994 deutlich gemacht, das im Bereich der
Strafverfolgung und speziell auch bei der verfassungsrechtlich gebotenen Anwendung der
diversen Einstellungsvorschriften aufgrund des Übermaßverbotes im Bereich der mit
dem Umgang mit Cannabisprodukten aufgeführten Strafvorschriften eine
einheitliche Rechtsanwendungspraxis geboten sei.

b. Gegenwärtige Praxis

Entgegen der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes verliefen die Bemühungen der
Länder, zu bundeseinheitlichen Richtlinien zu gelangen, bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt
erfolglos (vgl. Aulinger, NStZ 1999, 111, 113). Vielmehr gaben sich die

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Bundesländer die unterschiedlichsten Richtlinien (vgl. oben S. 11). Vergleicht man
diese Richtlinien, so offenbart sich bereits bei einer ersten Sichtung ein erheblicher
Auffassungsunterschied bei der Bestimmung der geringen Mengen von
Cannabisprodukten. Desweiteren zeigen die Richtlinien bereits eine unterschiedliche
Behandlung von Wiederholungstätern einerseits und auch eine unterschiedliche
Behandlung von Jugendlichen und Heranwachsenden andererseits (vgl. Körner,
Betäubungsmittelgesetz zu § 31 a Rdnr. 28; Aulinger, NStZ 1999, 111, 112; s. auch
oben S. 11). In der Folge der unterschiedlichen Grenzbestimmungen durch die Länder
behandeln die Staatsanwaltschaften der jeweiligen Bundesländer Konsumenten von
Cannabisprodukten unterschiedlich. Während es in einem Bundesland zur Anklage und
in der Folge in aller Regel auch zu einer Verurteilung kommt, wird in einem anderen
Bundesland eingestellt. So zeigt bereits das zur Entscheidung vorgelegte Verfahren
exemplarisch, die unterschiedliche Behandlung aufgrund unterschiedlicher Richtlinien (
s. o. S. 12). Abgesehen hiervon lassen die in den Ländern bestehenden Richtlinien seit
Jahren die unterschiedliche Behandlung von Cannabiskonsumenten im Bereich der
gesamten strafrechtlichen Verfolgungspraxis zu. So finden sich nicht nur auf
Länderebene regionale Unterschiede in der Einstellungspraxis, sondern darüber hinaus
auch auf der Ebene der einzelnen Staatsanwaltschaften in den Ländern. Es sind zum
Teil stark abweichende Sanktionenstile innerhalb eines Bundeslandes bei der
Behandlung von Drogenfällen festzustellen (vgl. Aulinger, Rechtsgleichheit und
Rechtswirklichkeit bei der Strafverfolgung von Drogenkonsumenten, S. 189).

Gerichtsbekannt ist insoweit, dass jedenfalls bis zur Entscheidung im vorliegenden
Verfahren selbst bei den Staatsanwaltschaften im Land Brandenburg die Richtlinie
unterschiedlich interpretiert wurde. Soweit die zuvor zitierte Studie der
kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden im Ergebnis ergab, dass eine im
wesentlichen einheitliche Einstellungspraxis bei Cannabisfallen bis zu 10 g vorliegt
(vgl. Aulinger, NStZ 1999, 111, 114), heißt dies nicht, dass nicht dennoch stark
unterschiedliche Einstellungspraxen von Staatsanwaltschaft zu Staatsanwaltschaft und
von Gericht zu Gericht bestehen. Denn die Richtlinien lassen es zumindestens offen,
dass auch bei nur geringen Mengen bisweilen angeklagt wird, wie der vorliegende Fall
zeigt. Die durch das Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebene Studie enthält
ferner keine Daten darüber, in wievielen Fällen im Bereich von bis zu 6 g oder bis zu 10
g gegen das bestehende Übermaßverbot verstoßen und konkret verurteilt wurde. Dies
wäre allerdings entscheidend für die Frage, ob aufgrund der durch die

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Bundesländer nicht erfolgten Umsetzung der Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichtes weiterhin im Bereich des Bagatellkonsums regelmäßig
gegen das verfassungsmäßige Übermaßverbot verstoßen wird. Insoweit dürfte bereits
jeder Einzelfall - wie auch der vorliegende - zeigen, dass die gegenwärtige Rechtslage
jedenfalls die Möglichkeit beinhaltet einzelne Bürger unterschiedlich zu behandeln.
Dies und nicht die etwa Annahme einer im wesentlichen gleichen
Rechtsanwendungspraxis dürfte entscheidend sein. Zur Verdeutlichung möge sich das
Bundesverfassungsgericht folgenden Fall vor Augen führen:

Sieben 20-Jährige treffen sich in Berlin zu einem bundesweiten Schachturnier. Sie
freunden sich hier an und kaufen jeweils zum eigenen Bedarf von einem unbekannten
Dritten folgende Mengen an Cannabis: der Schleswig-Holsteiner 25 g, der
Niedersachse 6 g, der Rheinland-Pfalzer 10 g, der Bayer 3 g, der Baden-Württemberger
7 g, der aus Nordrhein-Westfalen kommende 8 g und der Brandenburger 2 g. Nach
Ende des Schachturniers kommt es aufgrund eines Hinweises zu einer
Hausdurchsuchung im Hotel der Heranwachsenden. Alle werden mit den genannten
Mengen erwischt und lassen sich noch bei der Polizei geständig ein. Die Akte wird dem
zuständigen Berliner Staatsanwalt nach Abschluss der Ermittlungen vorgelegt. Dieser
verfügt gem. §§ 108 Abs. l, 42 Abs. 3 JGG die Trennung des Verfahrens in 7
selbstständige Verfahren und übersendet die Akten an die jeweiligen
Staatsanwaltschaften der 7 Länder. Nach einem Jahr treffen sich die Heranwachsenden
erneut in Berlin und berichten von ihren Erfahrungen mit den jeweiligen
Strafverfolgungsbehörden ihrer Heimatbundesländer. Die Heranwachsenden aus
Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz berichten, dass ihre Verfahren
eingestellt worden seien. Die Heranwachsenden aus Bayern, Baden-Württemberg und
Brandenburg dagegen erklären, dass sie sich - obwohl ihre Mengen zum Teil wesentlich
geringer waren - einem umfassenden Strafverfahren hätten unterziehen müssen. Zwei
berichten von Verurteilungen, einer von einer Einstellung gegen Geldauflage in der
Hauptverhandlung. Der aus Nordrhein-Westfalen erklärt schließlich, dass er in seinem
Bundesland Pech gehabt habe und ein Staatsanwalt entgegen der Richtlinien auch bei
ihm Anklage erhoben habe und er schließlich mit einer recht hohen Geldstrafe
abgeurteilt worden sei. Die Heranwachsenden aus Bayern, Baden-Württemberg und
Brandenburg erklären schließlich, dass ihre Heimatstaatsanwaltschaften
Hausdurchsuchungsbefehle erlangt und ihre Wohnungen haben durchsuchen lassen. In

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Folge hätten die Nachbarn monatelang nicht mit ihnen gesprochen (vgl. zu der
Intensität polizeilicher Ermittlungsarbeiten bei Drogendelikten im Bagatellbereich
Aulinger, Rechtsgleichheit und Rechtswirklichkeit, a. a. O., S. 250, signifikant ist
insoweit, dass es in Bayern bald in 40 % aller Fälle zu Hausdurchsuchungen kommt,
während in anderen dort aufgelisteten Ländern lediglich in bis zu 10 % der Fälle eine
solche Ermittlungsmaßnahme durchgeführt wird).

Das zuvor gewählte Beispiel, das sich so tagtäglich in der Bundesrepublik Deutschland
ereignen kann, soll plastisch aufzeigen, dass es eine uneinheitliche
Rechtsanwendungspraxis gibt. Hierbei ist nicht entscheidend, dass in vielen Fällen
sicherlich hinsichtlich der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gehandelt wird,
sondern dass in vielen Fällen unter Missachtung der Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts aufgrund der nichteinheitlichen Richtlinien gegen den
Gleichheitsgrundsatz gerichtsbekannt verstoßen wird bzw. verstoßen werden kann.

c. Formelle Prüfung des Gleichheitsgrundsatzes

Abgesehen hiervon verstößt die bestehende Praxis nach Auffassung des Amtsgerichts
auch bei formeller Prüfung gegen Art. 3 Abs. l GG.

aa. Verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Gleichheitssatzes
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. l GG verlangt zum einem eine
Rechtsanwendungsgleichheit (Gleichheit vor dem Gesetz) und zum anderen eine
Rechtsetzungsgleichheit (Gleichheit des Gesetzes).

Das Bundesverfassungsgericht hat diese verfassungsrechtliche Gebote regelmäßig
dahingehend konkretisiert, dass der Gleichheitssatz es dem Gesetzgeber verbiete,
wesentlich Gleiches willkürlich ungleich oder wesentlich Ungleiches willkürlich gleich
zu behandeln (BVerfGE l, 14, 16; 49, 148, 195). Dabei soll nicht jede
Ungleichbehandlung den Gleichheitssatz verletzten. So soll es grundsätzlich dem
Gesetzgeber obliegen, bestimmte Sachverhalte als gleich oder differenzierungsbedürftig
einzuordnen. Dabei kommt ihm ein weitreichender Beurteilungsspielraum zu. Auch
dieser Beurteilungsspielraum unterliegt allerdings der Schranke des Willkürverbots, so
dass

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bei der Frage einer Verletzung von Art. 3 Abs. l GG es entscheidend darauf ankommt,
ob die Ungleichbehandlung mit sachlich vernünftigen Gründen zu rechtfertigen ist (so
die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. BVerfGE 17, 122,
130; 71, 39, 53). In der so genannten „Neuen Formel" hat das Bundesverfassungsgericht
diese sachlichen Gründe weiter präzisiert. Demnach ist eine ungleiche Behandlung dann
gerechtfertigt, wenn zwischen zwei Gruppen „Unterschiede in solcher Art und solchem
Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen" (vgl. BVerfGE 55,
72, 88; 85, 238, 244). Dabei ist der regelnde und gestaltende Staat im Grunde
genommen frei, Unterschiede zu schaffen. Dies jedoch nur, sofern unterschiedliche
Behandlungen Zwecken; die mit der Ungleichbehandlung verfolgt werden, dienen. In
diesen Fällen kann allerdings die Rechtfertigung nicht mehr in den Unterschieden selbst
liegen, sondern nur in den Zwecken, die mit der Ungleichbehandlung verfolgt werden
(vgl. Pieroth-Schlink, Grundrechte 17. Aufl., 2001, Rdnr. 441).

bb. Bundesweite Vergleichbarkeit als Maßstab der Gleichbehandlung

Grundsätzlich ist eine Ungleichbehandlung durch staatliche Stellen
verfassungsrechtlich nur relevant , wenn sie durch die gleiche Rechtsetzungsgewalt
erfolgt. Insbesondere für die Behandlung durch staatlichen Gewalt verschiedener
Bundesländer gilt dieser Grundsatz, was sich aus der föderalen Gliederung der
Bundesrepublik Deutschland, wie sie in Art. 20 Abs. l und Art. 79 Abs. 3 GG
niedergelegt wurde, ergibt. . Demnach ist es grundsätzlich möglich, dass die
verschiedenen Bundesländern bei der Ausübung ihrer Gesetzgebungskompetenzen
ebenso wie in ihrer Verwaltungspraxis von den gesetzlichen Spielräumen
unterschiedlich Gebrauch machen. Allerdings findet auch dieses Recht zur
Differenzierung seine Grenzen in dem in Art. 72 Abs. 2 GG anklingenden Gebot zur
Wahrung bzw. Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse. Gerade im Bereich der
Strafrechtspflege, die eine der härtesten Eingriffe des Staates in die Freiheitsrechte
seiner Bürger darstellt, muss dieses Gebot aber - trotz des föderativen Staatsaufbaus der
Bundesrepublik Deutschland - besondere Beachtung finden. So hat es auch speziell für
den Bereich der Strafverfolgung in gesetzlichen Regelungen Niederschlag
gefunden, insbesondere durch die Vorlagepflicht der Oberlandesgerichte an den
Bundesgerichtshof, wenn sie von einer Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts

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oder des Bundesgerichtshofes abweichen wollen. So soll diese Verpflichtung dazu
beitragen, solche Divergenzen bei der Rechtsanwendung zu vermeiden, die durch das
föderative Gefüge der Strafrechtspflege bedingt sind (vgl. auch Aulinger zu in NStZ
1999 111, 113). Führt die Praxis in einzelnen Ländern hingegen zu nicht mehr
hinnehmbaren Unterschieden, was der Fall ist, wenn zwischen den einzelnen Bundes l
ändern extreme Gefällesituationen bzw. unerträgliche Verschiedenheiten auftauchen,
dann sind diese Unterschiede jedenfalls nicht mehr mit der Gliederung der
Bundesrepublik in die Länder im Einklang zu bringen (vgl. Maunz / Dürig / Lerche
Grundgesetzkommentar, 7. Auflage 1994, Art. 83 Rdnr. 10).

Im Beschluss vom 09.03.1994 hat das Bundesverfassungsgericht unter
Berücksichtigung der zuvor dargelegten Ausgestaltung des Gleichheitsgrundsatzes
deutlich gemacht, dass bei Anwendung der diversen Einstellungsvorschriften im
Bereich der m i t dem Umgang mit Cannabisprodukten aufgeführten Strafvorschriften,
eine einheitliche Rechtsanwendungspraxis geboten ist (siehe oben, S. 62).

cc. Gleichheitssatz und Verfahrensweisen der Länder

Die Praxis der Bundesländer bei der Umsetzung der Vorgaben des Beschlusses des
Bundesverfassungsgerichts vom 09.03.1994 genügt nach Ansicht des Amtsgerichts
Bernau den zuvor dargelegten Anforderungen nicht und verstößt deshalb gegen den
Gleichheitsgrundsalz aus Art. 3 Abs. l GG . Wesentlich gleiche Sachverhalte werden
durch Verwaltungsrichtlinien ungleich behandelt. So sind zunächst die in den 16
Bundesländern verfolgten Sachverhalte im wesentlichen gleich. Die Beschuldigten
sind bei polizeilichen Maßnahmen im Besitz von Cannabisprodukten aufgegriffen
worden, wobei die festgestellten Mengen sich in den gleichen Rahmen bewegten. In
vielen Fällen sagen die Beschuldigten in den sich anschließenden polizeilichen
Vernehmungen freimütig aus und erklären oftmals auch, wie oft sie Cannabisprodukte
konsumiert haben. In allen diesen Fällen sind keine wesentlichen Unterschiede
erkennbar, die dazu führen könnten, dass die in verschiedenen Bundesländern verfolgten
Fälle nicht unter einem gemeinsamen sinnvollen Bezugspunkt und zwar durch den
Bundesgesetzgeber gefasst werden könnten. Dieser Bezugspunkt besteht in dem
Konsum geringer Mengen von Cannabisprodukten und

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den damit verbundenen Vorbereitungshandlungen.
Die ungleiche Behandlung der Täter durch die Staatsanwaltschaften der verschiedenen
Bundesländer ist offensichtlich. Die Mengen, die von den verschiedenen Staatsanwaltschaften
als gering im Sinne der Einstellungsvorschriften angesehen werden, divergieren
erheblich. Es kommt hinzu, dass die Länder darüber hinaus eine unterschiedliche
Einstellungspraxis hinsichtlich Wiederholung- und Mehrfachtäter haben. Auch die
Anwendung des § 31 a BtmG auf Jugendliche und Heranwachsende ist umstritten (s. oben
S. 11 m. w. N.)

Für die Ungleichbehandlung durch die unterschiedlichen Bundesländer ist keine
sachliche Rechtfertigung erkennbar. Die - nach Ansicht des vorlegenden Gerichts
ohnehin nicht im relevanten Ausmaß vorhandenen Gefahren -, die von
Cannabisprodukten ausgehen dürften, existieren jedenfalls in Bayern genauso wie in
Brandenburg oder Schleswig-Holstein.

Schließlich ergibt sich nach dem oben Dargelegten auch eine Verpflichtung der
Länder, die prozessualen Möglichkeiten der StPO und des BtmG einheitlich anzuwenden.
Die durch die verschiedenen Bundesländer bzw. deren Justizminister oder
Generalstaatsanwälte erlassenen Richtlinien umfassen eine derart große Spannbreite;
dass sie nur noch als extreme Gefällesituation bezeichnet werden kann. Sie führen auch zu
unerträglichen Verschiedenheiten zwischen den einzelnen Bundesländern. Dies wird
besonders deutlich, wenn man die Tatsache mit einbezieht, dass es letztlich nur von
Zufälligkeiten abhängt, ob eine Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz von einer
Staatsanwaltschaft verfolgt wird, die eher ein niedrigen Grenzwert annimmt oder von
einer Staatsanwaltschaft, die in dieser Hinsicht großzügigere Anweisungen hat. Im Fall
von jugendlichen und heranwachsenden Straftätern hängt dies nur davon ab, in welchem
Bundesland sie bei Begehen der Tat wohnen.

Im Ergebnis ist festzustellen, dass die prozessuale Lösung nicht zu dem erhofften Erfolg
geführt hat und gleiche Personen für das Gleiche unterschiedlich bestraft werden bzw.
bestraft werden können. Der Bundesgesetzgeber ist gefordert, dem Übermaßverbot
entsprechende Gesetze zu erlassen und die zu weit gefassten Tatbestände des § 29 Abs. l
Nr. l und Nr. 3 BtmG auf Bundesebene verfassungsgemäß auszugestalten.

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4. Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG

- Gesetzlichkeitsprinzip -

Gemäß Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit
gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Dieses Gesetzlichkeitsprinzip,
das nicht nur in Art. 103 Abs. 2 GG, sondern auch in § l StGB gleichlautend formuliert
wurde, setzt für die Bestrafung eines Verhaltens die zuvorige gesetzliche Bestimmung
der Strafbarkeit, als auch deren mögliche Strafsanktion voraus (vgl. Tröndle / Fischer,
StGB, 49, Auflage, § l, Rndr. 1). Diese Verpflichtung bezieht sich auf jede staatliche
Maßnahme, „die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein schuldhaftes
Verhalten enthält" (vgl. BVerfGE 26, 186, 203 ff.; 45, 346, 351).

Die Verfassungsgarantie des Art. 103 Abs. 2 GG dient dabei einem doppelten Zweck:
Einerseits soll jedermann vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit
Strafe versehen ist. Andererseits soll sichergestellt werden, dass über die Strafbarkeit
durch die verfassungsmäßig dazu berufene Institution, nämlich den Gesetzgeber,
bestimmt wird. Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt,
der es der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt verwehrt, selbstständig über die
Voraussetzung der Strafbarkeit zu entscheiden (vgl. Hill, Rechtsschutz und
Staatshaftung, Rndr. 61 mit weiteren Nachweisen; Isensee/Kirchhof, Handbuch des
Staatsrecht Band VI, 1989).

Die gegenwärtige Praxis im Umgang mit Cannabiskonsumenten verstößt gegen beide
Aspekte des Gesetzlichkeitsprinzips.

a. Vorhersehbarkeit

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht führt das Erfordernis
der Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit für die Normadressaten dazu, dass der Einzelne
die Möglichkeit hat, sein Verhalten auf die Rechtslage einzurichten; er soll die
Tragweite und den Anwendungsbereich des Straftatbestandes erkennen oder durch
Auslegung ermitteln können (vgl. BVerfGE 87, 224 ff.). „Jeder soll vorhersehen

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können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Im Rahmen des
Bestimmtheitsgrundsatzes ist es dem Gesetzgeber zwar grundsätzlich erlaubt, seine
Vorgaben abstrakt zu umreißen und dabei insbesondere auf unbestimmte Gesetzesbegriffe
zurückzugreifen" ( Maunz / Dürig, Art. 103 Abs. 2, Rdnr. 186). Dies darf er allerdings
nur dann, wenn die unbestimmten Rechtsbegriffe der näheren Deutung im Wege der
Auslegung zugänglich sind. Maßgebendes Kriterium ist dabei der Gesetzestext: Der
mögliche Wortsinn markiert die äußere Grenze zulässiger richterlicher Interpretation (vgl.
BVerfGE 71, 108, 115; 73, 206, 235). Dementsprechend steht eine Verurteilung, die auf
einer objektiv unhaltbaren und damit willkürlichen Auslegung des geschriebenen
materiellen Strafrechtes beruht, erst recht in Widerspruch zu Art. 103 Abs. 2 GG (vgl. Hill
a. a. o., Rdnr. 61). Für die Normadressaten der hier angegriffenen Normen des
Betäubungsmittelgesetzes ist nicht mehr vorhersehbar, mit welchen Verhalten sie sich der
Strafverfolgung unterziehen. Sie können nicht erkennen, welche Mengen Cannabis sie bei
sich führen dürfen, ohne sich der Gefahr eines gerichtlichen Strafverfahrens und evtl.
anschließender Verurteilung auszusetzen.

Bereits die unterschiedlichen Richtlinien in den Bundesländern sind für die Bürger
dermaßen unübersichtlich, dass kaum ein Bürger weiß, ob er sich und vor allen Dingen wo
er sich gerade wegen welcher Menge einer Strafverfolgung unterziehen muss oder aber
nicht. So wissen selbst Fachdezernenten oder Richter, die jahrelang mit
Betäubungsmittelverfahren zu tun haben, oftmals nicht, welche Regelungen in anderen
Bundesländern gelten. Wenn dies allerdings noch nicht einmal bei Fachpersonal der
Fall ist, wie soll dann ein Bürger, der ohne Zugang zu Rechtsliteratur ist, wissen, wie und
wo er sich gerade strafbar macht. Während jeder Bürger weiß, dass er sich strafbar macht,
sofern er auch nur die geringste Sache wegnimmt, ist dies im Bereich von
Cannabispönalisierung nicht mehr der Fall. So stelle man sich einen Schausteller vor/ der
mit 9 g Cannabis durch die Bundesländer zieht. Er würde sich bei einem Wechsel über die
Grenzen der verschiedenen Bundesländern mal der Strafverfolgung aussetzen und mal
wieder nicht. Vorhersehen und damit sein Verhalten darauf abstimmen, indem er z. B. ein
Teil des Betäubungsmittels zurücklässt, könnte er die Strafbarkeit allerdings nur, sofern er
die jeweiligen Richtlinien in den verschiedenen Staatsanwaltschaften kennen würde. Da
diese - wie exemplarisch im vorliegenden Fall durch den Brandenburgischen General
Staatsanwalt geschehen noch dazu jeder Zeit geändert

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werden können, müsste er darüber hinaus sicher stellen, auch immer die allerneueste
Fassung der Richtlinie zu Hand zu haben. Allein dieses Beispiel zeigt, dass von einer
hinreichenden Bestimmtheit, die dem Gesetzgeber obliegt, nicht gesprochen werden
kann. Der Normadressat kann nicht mehr einschätzen, ob seine Verhaltensweise
tatbestands- oder sanktionsrelevant ist. Er unterliegt mithin der Willkür 'und den
jeweiligen Moralvorstellungen der verschiedenen Justizminister, Landesregierungen
oder Generalstaatsanwälten und darüber hinaus auch den der verschiedenen tätig
werdenden Richter oder Staatsanwälte.

b. Bestimmung der Strafbarkeit durch den Gesetzgeber

Weiterhin verstößt die derzeitige Verfahrensweise auch insoweit gegen den
Bestimmheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG, als das nicht mehr der
Bundesgesetzgeber die Grenzen der Strafbarkeit bestimmt, sondern die
Generalstaatsanwaltschaften - wie der vorliegenden Fall exemplarisch zeigt - bzw. die
Justizminister der Länder (vgl. Büttner, S. 155 m. w. N.). Durch den
Gesetzlichkeitsgrundsatz soll aber sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber selber
über die Strafbarkeit entscheidet (BVerfGE 78, 374, 382 unter Bezugnahme auf
BVerfGE47, 109,201).

Mit seinem Beschluss vom 09.03.1994 hat das Bundesverfassungsgericht letztlich aber
den Strafverfolgungsbehörden und mithin der Exekutive die Funktion zugeordnet,
mittels des in der Regel zu erfolgenden Strafverfolgungsverzichts die legitimen
Grenzen eines zu weit geratenen materiellen Tatbestands zu gewährleisten (vgl.
Büttner, S. 153). Damit unterliegt die Bestimmung der Strafbarkeit nicht mehr dem
Gesetzgeber, sondern der Exekutive, nämlich den Staatsanwaltschaften.
Zwar kam dem Bestimmtheitsgebot und auch dann genüge getan sein, wenn im Rahmen
der gesetzlichen Regelung auf untergesetzliche Normen verwiesen wird. So geht das
Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die gesetzliche Strafandrohung mit einem
Verweis auf eine Verordnung oder auch einen erst noch zu erlassenen Verwaltungsakt
verknüpft sein könne. Aber auch insoweit müssten nach den Anforderungen des
Bundesverfassungsgerichts die Voraussetzung der Strafbarkeit und die Art der Strafe
für den Bürger bereits aufgrund des Gesetzes und nicht erst aufgrund der hierauf

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gestützten Verordnung erkennbar sein. Der Gesetzgeber habe die Voraussetzungen der
Strafbarkeit selbst zu bestimmen und dürfe diese Entscheidung nicht den Organen der
vollziehenden Gewalt überlassen. Gleiches gilt nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts entsprechend auch für die Knüpfung der Strafandrohung an die
Nichtbefolgung eines Verwaltungsaktes (vgl. BVerfGE 78, 374, 382).

Nach diesen Grundsätzen verstößt die derzeitige Praxis bei der Strafverfolgung des
Umgangs mit geringen Mengen Cannabis gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Denn die Grenzen der
Strafbarkeit werden nicht durch den Gesetzgeber, sondern durch die Staatsanwaltschaften
als Teil der Exekutive bestimmt (vgl. auch Sondervotum Sommer BVerfGE 90, 145,
224). Diese entscheiden nicht nur - wie bereits dargestellt - von Bundesland zu
Bundesland äußerst unterschiedlich, sondern sind auch in der Lage ihre behördeninternen
Vorschriften jederzeit - insbesondere auch ohne für Außenstehende nachvollziehbare
Gründe - zu verändern. Dies zeigt auch das vorliegende Verfahren. Denn zunächst galt in
Brandenburg entsprechend der Richtlinie aus dem Jahr 1993 eine Cannabismenge von 3
Konsumeinheiten als gering im Sinne der entsprechenden Vorschriften des BtmG. Nach
dem das Amtsgericht Bernau den vorliegenden Beschluss gefasst hatte, wurde dieser
Grenzwert auf bis zu 6 g hinaufgesetzt.

Es ist nicht erkennbar, welche sachlich nachvollziehbaren Erwägungen den
Generalstaatsanwalt dazu bewogen haben könnten, den Grenzwert nunmehr verbindlich
heraufzusetzen. Gleichzeitig zeigt diese Vorgehensweise aber exemplarisch wie weit
die derzeitige Praxis gegen den Grundsatz verstößt, dass der Gesetzgeber und nicht die
Exekutive die Grenzen der Strafbarkeit zu bestimmen hat. Denn die Frage, bis zu
welchen Mengen Cannabis von einer geringen Menge ausgegangen werden soll,
entscheidet darüber, ob ein Angeklagter sich einer Strafe auszusetzen hat oder ob das
Verfahren eingestellt wird. Damit stellt die Einstufung einer Cannabismenge als
„gering" die entscheidende Voraussetzung der Strafbarkeit dar. Diese wird aber derzeit
nicht durch den Gesetzgeber nach den dafür vorgesehenen Formen und Verfahren
bestimmt. Diese würden dazu führen, dass in einem der Öffentlichkeit
nachvollziehbaren Prozess durch die zuständigen Gremien, insbesondere dem
Bundestag und seinen Ausschüssen, über die Frage befunden würde, bis zu welchem
Wert jeder einzelne straffrei mit Cannabisprodukten umgehen kann. Vielmehr entscheiden
derzeit Vertreter der Exekutive in einem nicht nachvollziehbaren und durch

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die Öffentlichkeit nicht zu kontrollierenden, wohl schon als willkürlich zu
bezeichnenden Verfahren über dieses entscheidende Kriterium der Strafbarkeit.
Die prozessuale Lösung des Bundesverfassungsgerichts vermochte nicht der Doppel
Funktion des gesetzlichen Bestimmheitsgebotes des Grundgesetzes gerecht zu werden,
da die Grenzen der Strafbarkeit von falschen Institutionen, ohne Öffentlichkeit und
nach Auffassung des Amtsgerichts Bernau wiederholt bundesweit in willkürlicher
Weise festgelegt wurden und werden (so auch Büttner, S. 159). -

Das Amtsgericht Bernau und wie gerichtsbekannt auch benachbarte Amtsgerichte haben
in den vergangenen Jahren regelmäßig über Anklagen und Strafbefehle entscheiden
müssen, die sich weit unterhalb von 6 g bzw. von 10 g Cannabis beliefen. In vielen
Fällen wurde hier aus pragmatischen Gründen in der Hauptverhandlung gem. § 31 a
BtmG von der Verfolgung abgesehen. Teils erfolgte hier aber auch eine Einstellung
gegen Geldauflage und teils eine ohne Geldauflage. In all diesen Fällen waren die
Betroffenen jedoch zum Zeitpunkt der jeweiligen Entscheidungen bereits erheblich
durch das Strafverfahren in Mitleidenschaft gezogen worden. Abgesehen davon, hatten
sie sich zum Teil, öffentlichen Verhandlungen zu beugen und stimmten trotz fehlenden
Unrechtsbewusstsein den Kompromisslösungen zu. So wurde ihnen im "Rahmen der
jeweiligen Strafverhandlung regelmäßig dargelegt, dass ihre jeweiligen
Verhaltensweisen in einem solch moralisch verachtenswerten Maß gesehen werden, das
es rechtfertigt sie vor Strafrichtern zu stellen.

Unter Berücksichtigung der in diesem Verfahren gewonnenen Erkenntnis hat das
Amtsgericht aufgrund gegen das Übermaßverbot verstoßender Anklagen der
Staatsanwaltschaft regelmäßig wohl verfassungswidrig gehandelt. Das Amtsgericht
Bernau ist insoweit kein Einzelfall. Bundesweit wird in gleicher Art und Weise
regelmäßig verfahren. Diese Verfahrensweisen zeigen, dass es möglich ist, entgegen der
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1994 gegen das
Übermaßverbot zu verstoßen.

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Nur das Bundesverfassungsgericht ist in der Lage, dem Gesetzgeber deutlich zu
machen, dass es seine Aufgabe ist, Bürger vor verfassungswidrigem Handeln der
Exekutive und der Justiz zu bewahren.

Müller
Richter am Amtsgericht

Ausgefertigt Boras
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle