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Schulmediziner testen Cannabis

In breit angelegten Studien wird in der Schweiz die Heilkraft der Hanfwirkstoffe erforscht

VON NIK WALTER

Bern/St. Gallen/Montana - Krebspatienten, Querschnittsgelähmte oder Menschen, die an multipler Sklerose (MS) leiden - sie alle kennen ein wirksames Mittel gegen ihre zuweilen unerträglichen Schmerzen: Sie trinken einen Hanftee oder rauchen einen Joint. Die illegale Selbstmedikation bringt, das wissen die Leidenden, mannigfaltige Linderung: Krebspatienten, die nichts mehr essen können,
spüren plötzlich wieder Appetit und legen an Gewicht zu; Querschnittsgelähmte oder MS-Patienten entspannen sich und haben weniger Muskelkrämpfe; Asthmatiker können nach einer Tasse Hanftee wieder ruhiger atmen; und vielen Patienten verhilft ein Joint einfach zu einem besseren Schlaf.

Das Suchtpotenzial ist laut Studien nur minimal

Die Liste der Heilwirkungen liesse sich fast beliebig verlängern. Da erstaunt es nicht, dass sich auch Schulmediziner für die Hanfpflanze und deren Inhaltsstoffe, die so genannten Cannabinoide, interessieren. «Über dieses Potenzial darf die Medizin nicht hinwegsehen», sagt Onkologie-Chefarzt Thomas Cerny vom Kantonsspital St. Gallen. Und für den Pharmazeuten Rudolf Brenneisen vom Inselspital Bern ist Cannabis sativa schlicht «die faszinierendste Heilpflanze, die ich kenne». Sie ist auch eine der sichersten. Im Gegensatz etwa zu Aspirin oder anderen «harmlosen» Medikamenten ist kein einziger Todesfall bekannt, der direkt auf den Konsum von Cannabis zurückzuführen ist. Zudem ist das Suchtpotenzial von Cannabis, das zeigen etliche Studien, minim. Nur: Der Konsum von Cannabis-Produkten ist hier zu Lande auch zu therapeutischen Zwecken untersagt. Brenneisen ärgert das: «Es ist unhaltbar, dass sich
ein Patient mit etwas kriminalisiert, das ihm hilft.» Brenneisen gilt als einer der führenden Schweizer Cannabis-Experten und ist mit verantwortlich dafür, dass die vielfältigen Wirkungen der (noch) verbotenen Droge endlich auch in klinischen Studien schulmedizinisch
sauber getestet werden. Insgesamt laufen in der Schweiz derzeit vier Studien, die verschiedene Aspekte der Heilwirkung von Cannabinoiden - insbesondere dem Hauptwirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC) - untersuchen:

- Am weitesten fortgeschritten ist eine Studie mit Querschnittsgelähmten an der Rehabilitationsklinik Basel. Dort testet ein Team um die Oberärztin Ulrike Hagenbach den Einsatz von THC zur Linderung von schmerzhaften Muskelkrämpfen, so genannten Spasmen. Die Studie ist noch nicht abgeschlossen, doch der Cannabis-Bericht der Eidgenössischen Kommission für Drogenfragen sprach schon im Mai 1999 von «viel versprechenden ersten Ergebnissen».

- An der Berner Klinik in Montana läuft seit März 2000 eine ähnliche Studie mit insgesamt 50 MS-Patienten. Unter der Federführung des anthroposophisch angehauchten Europäischen Instituts für onkologische und immunologische Forschung in Berlin testet der Klinik-Chefarzt Claude Vaney ein natürliches Hanfextrakt der Firma Weleda.

- Ebenfalls im Rahmen dieser von Berlin aus koordinierten Studie verabreicht Thomas Cerny am Kantonsspital St. Gallen Krebspatienten, die an Appetitlosigkeit leiden und stark abgemagert sind, entweder synthetisch hergestelltes THC oder das Weleda-Hanfextrakt. Die eben gerade angelaufene Studie ist, wie die anderen Schweizer Studien, doppelblind angelegt: Patienten und Ärzte wissen dabei nicht, wer THC-, Hanfextrakt- und wer Placebo-Kapseln erhält.

- Die Wirkung des THC-Medikaments Marinol als Schmerzmittel testet derweil ein Team um Rudolf Brenneisen am Inselspital Bern an 12 Gesunden. Die Auswertung ist noch nicht abgeschlossen, doch die Resultate seien eher mässig, sagt Brenneisen: «Marinol ist keine Wunderdroge.»

THC darf in der Schweiz nur für die Forschung benutzt werden

Anders als etwa in den USA, wo Marinol gegen Appetitlosigkeit und als Antibrechreiz-Medikament offiziell zugelassen ist, darf das THC-Mittel hier zu Lande nur zu Forschungszwecken verwendet werden. In begründeten Fällen - etwa bei starken Spasmen - können Patienten indes beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) eine Ausnahmebewilligung für die Verwendung von Marinol bewirken.
Nur: Marinol ist sehr teuer. So muss der MS-Patient P. M., der täglich vier Kapseln Marinol (zu je 5 Milligramm) schluckt, um seine Krämpfe in den Griff zu bekommen (und damit sehr zufrieden ist), für eine Tagesration 60 Franken hinblättern. Glücklicherweise übernimmt die Krankenkasse 90 Prozent der Kosten, sonst müsste er wohl den Rat befolgen, den er einst von einem Arzt bekommen hatte: «Gehen Sie einen Joint kaufen!».

Weltweit tüfteln mehrere Forscher an einem Inhaliergerät

Anders als M. klagen viele Patienten, dass oral geschlucktes Marinol nicht die gleiche Wirkung zeitigt wie ein Joint. Das kann daran liegen, dass natürliches Cannabis viele verschiedene Inhaltsstoffe hat, Marinol hingegen nur THC. Alternativ kann auch die Verabreichungsform schuld sein: Denn anders als bei einem Joint, wo die Wirkstoffe über die Lunge sehr schnell ins Blut gelangen, dauert die Aufnahme über den Magen-Darm-Trakt lange. «Die orale Aufnahme ist schwer dosierbar und daher nicht optimal», sagt Claude Vaney von der Berner Klinik. Das ist tatsächlich ein heikler Punkt für die Schulmedizin. Viele Ärzte wissen, dass ein Joint ihren Patienten Erleichterung bringt, sie dürfen aber aus medizinischen Gründen rauchen nicht mit Kapseln vergleichen - und Joints verschreiben, das geht halt auch nicht. Deshalb tüfteln weltweit mehrere Forscher - darunter auch eine Doktorandin von Rudolf
Brenneisen - an einem Inhalationsspray. Damit, so das erklärte Ziel, könnte der Wirkstoff in Zukunft über die Lungen aufgenommen werden, ohne die Nachteile des Rauchens in Kauf nehmen zu müssen. In ein bis zwei Jahren, hofft Brenneisen, stehen die Geräte für klinische Tests zur Verfügung.

Das Kraut, auf das der Kranke baut

Es gibt noch wenige wissenschaftliche Studien zum therapeutischen Potenzial von Cannabis, Hanfextrakten oder THC-Produkten wie Marinol.

Folgende Anwendungsgebiete kommen in Frage:

- Als gesichert gilt, dass Cannabis als Antibrechmittel bei Krebspatienten (Übelkeit bei Chemotherapie) wirkt. Ebenfalls fördert es
bei Patienten, die nichts mehr essen können, den Appetit.

- Cannabis-Produkte haben eine klar entspannende Wirkung und können schmerzhafte Muskelkrämpfe - etwa bei MS-Patienten und
Querschnittgelähmten - lösen.

- THC und andere Cannabinoide mindern den Augeninnendruck und wirken so gegen den Grünen Star.

- Viele Patienten, die starke Schmerzen mit Opiaten zu lindern versuchen, berichten, dass sie mit einem Joint die Opiatdosis verringern
können.

- Marihuana erweitert bei Asthma die Bronchien.

- Eine amerikanische Studie konnte kürzlich zeigen, dass das Cannabinoid HU211 die Schwellung des Hirns nach einem Hirnschlag verhindert. In einer anderen Studie fanden spanische Forscher, dass THC bei Ratten aggressive Hirntumoren schwinden lässt.

- Weitere mögliche Anwendungsgebiete von Cannabis: Tourette-Syndrom (Tics), Migräne, Epilepsie und hoher Blutdruck.

Zwar kann Cannabis die Wahrnehmung verändern, doch sonst gilt das Kraut als ungefährlich. Um sich umzubringen, müsste man, so eine Berechnung, etwa 20 000 Joints in 15 Minuten rauchen.

Copyright © 1996 - 2000 Tamedia AG

Sonntagszeitung, 01.10.2000
http://www.sonntagszeitung.ch/sz/szFeinRubrik.html?ArtId=37218&ausgabeid=278&rubrikid=177